Heilmittel II

Tuberkulin – ein medizinisches Roulette | Dieses kleine Fläschchen, gefüllt mit schwärzlicher Flüssigkeit, glänzt normalerweise als ein Highlight bei uns, in der Dauerausstellung des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité. Da das Museum derzeit wegen Umbaus geschlossen ist, haben wir es sorgsam eingepackt und weggestellt. Toll, dass es sich hier aus aktuellem Anlass wieder zeigen kann, denn es hat eine schier unglaubliche Geschichte zu erzählen.

So, wie wir heute den Übeltäter von Covid-19, das Coronavirus, kennen und alle Welt nun fiebrig auf ein Gegenmittel oder einen Impfstoff wartet, war es vor fast 140 Jahren mit der Tuberkulose auch. Robert Koch (1843-1910) hatte am 24. März 1882 Berliner Kollegen im engeren Kreis seine Entdeckung vorgestellt – den bakteriellen Erreger der Schwindsucht, wie die Tuberkulose damals auch genannt wurde. Damit war der forschende Arzt über Nacht zum Star der deutschen Bakteriologie geworden. Koch stand nun aber auch gehörig unter Druck. Wer, wenn nicht er, würde in der Lage sein, ein Medikament gegen die Volksseuche Nummer eins zu entwickeln?

Acht Jahre lang forschte Koch, zunächst am Kaiserlichen Gesundheitsamt, dann als Chef des für ihn geschaffenen Hygiene-Instituts der Berliner Universität. Immer höher schraubten sich die Erwartungen. Selbst der Kaiser äußerte sich. Mit der Koch‘schen Wunderwaffe sollten die Franzosen einmal mehr (der gewonnene Krieg 1870/1871 befeuerte die Rivalität) in die Knie gezwungen werden.

1890 hatte Koch eine Substanz entwickelt, die – unter die Haut gespritzt – im Tier- und Selbstversuch positive Ergebnisse zeitigte. Der 10. Internationale Medizinische Kongress stand ins Haus. Die wissenschaftliche Welt würde zu Gast sein in Berlin. Da machte Koch einen Fehler. Er verzichtete darauf, das Mittel zuerst im größeren Stil an PatientInnen in verschiedenen Kliniken zu testen. Er spielte gewissermaßen wissenschaftlich Roulette und gab das Präparat unter der Bezeichnung „Tuberculin“ zum Einsatz frei. Was folgte, war ein regelrechter Begeisterungssturm. Zahllose Kranke pilgerten nach Berlin, um das Medikament verabreicht zu bekommen. Das mediale Echo war gewaltig. Anfangs wurde nur über Erfolge berichtet.

Bald jedoch wich die Euphorie der Ernüchterung. Das Mittel brachte weder eine Linderung noch eine Besserung der Beschwerden. Vielmehr stieg die Todesrate. Als schließlich der Berliner Pathologe und Universitätskollege Rudolf Virchow auf dem Sektionstisch einen direkten Zusammenhang zwischen Tuberkulingabe und Verschlimmerung der Krankheit feststellte, war der Skandal perfekt. Erst jetzt, unter dem Eindruck der Ereignisse, gab Koch die Zusammensetzung seiner Entwicklung preis. Es handelte sich um eine Suspension vermeintlich abgetöteter Bakterien. Fast hätte Koch dieser Flop seine wissenschaftliche Karriere gekostet. Zwar erhielt er 1890 in Berlin ein außeruniversitäres Forschungsinstitut (seit 1912 heißt es „Robert-Koch-Institut”), doch erst als es ihm 1892/93 gelang, als oberster, obrigkeitlich bestallter Seuchenbekämpfer die Hamburger Cholera in den Griff zu bekommen, war sein Ruf halbwegs wiederhergestellt.

Koch entwickelte sein Tuberkulin stetig weiter. Er glaubte bis zum Schluss an eine therapeutische Wirkung. Ab 1907 kam das Mittel in abgeschwächter und modifizierter Form bei der Tuberkulose-Diagnostik zum Einsatz. Doch ein Heilmittel gegen die Krankheit suchte man weiterhin vergebens. Die Vermeidung der Ansteckung durch „richtiges Husten” und „richtiges Spucken“ blieb weiterhin von essentieller Bedeutung für ihre Eindämmung. Erst in den 1950er Jahren stand durch die Mehrfachgabe unterschiedlicher Antibiotika eine effektive Behandlung gegen das nicht nur äußerst aggressive, sondern auch sehr robuste Tuberkel-Bakterium zur Verfügung.

Literatur:
Christoph Gradmann: Krankheit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie. Göttingen 2005

Autor:
Prof. Dr. Thomas Schnalke
Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité
Charitéplatz 1
10117 Berlin
www.bmm-charite.de
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Veröffentlicht am 1.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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