Solidarität III

Die Pflege von Seuchenopfern – kein Job für Feiglinge | Als Mitte August 1892 in Hamburg zum letzten Mal in Deutschland die Cholera ausbrach, ähnelten die Zustände in vielerlei Hinsicht der aktuellen Corona-Krise. So versuchte der Senat mit Rücksicht auf den Außenhandel, die Krankheit zunächst zu verheimlichen. Diese Strategie ist typisch für den Ausbruch von Seuchen und ist keineswegs nur im Ursprungsland der gegenwärtigen Pandemie festzustellen.

Bezeichnenderweise war es auch nicht der Senat, der zur Unterstützung der völlig überforderten Krankenhäuser der Hansestadt um externe Hilfe bat, sondern der Ärztliche Direktor des Eppendorfer Krankenhauses. Ende August telegrafierte er verzweifelt an das preußische Heer und forderte ein Feldlazarett mit 500 Betten an. Weitere, von religiösen oder wohltätigen Organisationen gerufene Kräfte kamen dazu, sodass insgesamt ca. 90 auswärtige Ärzte und 600 Pflegekräfte in Hamburg tätig waren.

Dies war bitter nötig, wenn man sich das Ausmaß des Seuchenausbruchs vor Augen führt, der an die diesjährige Corona-Situation in Italien und Spanien erinnert: In den Spitzenzeiten der Epidemie wurden pro Tag über 1.000 Krankheitsfälle gemeldet und bis zu 400 PatientInnen in die Krankenhäuser eingeliefert, deren Aufnahmekapazität man durch hastig errichtete „Cholerabaracken“ zu vergrößern trachtete. Hamburg hatte damals 570.000 Einwohner, von denen ca. 18.000 erkrankten und über 8.000 starben.

Das Cholerabakterium war bereits 1884 von Robert Koch (1843–1910) in Indien als Auslöser der „Brechruhr“ identifiziert worden. Er stellte dabei auch einen Zusammenhang mit dem Trinkwasser her. Dies hatte jedoch keine praktischen Auswirkungen auf die Situation in Hamburg. Der Senat war eher der „Bodentheorie“ von Max von Pettenkofer (1818–1901) zugetan, um seine Versäumnisse bei der Wasserhygiene zu kaschieren. Als das preußische Gesundheitsministerium Robert Koch im August 1892 nach Hamburg schickte, war es schon zu spät, um noch regulierend einzugreifen. Die Cholera hatte Hamburg bereits im Griff.

Das kleine Diakonissenmutterhaus Bethesda, zu dem 1891 nur 38 Schwestern gehörten, bot dem Hamburger Krankenhaus St. Georg seine Hilfe an. Die katastrophalen Zustände in der Patientenversorgung führten schon bald zur Überlastung der eigenen Kräfte und zum Hilferuf an andere Mutterhäuser durch den Vorsteher Rohwedder. In seinem Telegramm an die Kaiserswerther Diakonissenanstalt schrieb er am 29. August: „Wie viele Diakonissen können Sie sofort zur Cholerapflege schicken? Verlegenheit groß […]“.

Die Hamburger Bevölkerung rechnete nicht mit auswärtiger Hilfe. Reisende, die aus der Hansestadt kamen, wurden im Binnenland unter Quarantäne gestellt und freiwillig fuhr niemand in das Seuchengebiet. Eine zeitgenössische Schilderung gibt ein diesbezügliches Kneipengespräch wieder: „Die Landratten sind lauter Bangebüxen. Machen n’ großen Spektakel und schmeißen sich in die Brust, als ob jeder ein kleiner Bismarck wäre: Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt! Nun muß es heißen: Wir Deutschen fürchten Gott und die Cholera.“

„Bangebüxen“ waren die Kaiserswerther Diakonissen sicherlich nicht, hatten doch viele von ihnen schon in früheren Zeiten in Seuchenfällen Kranke gepflegt und diesen Einsatz nicht selten mit dem Leben bezahlt. Daher rechnete man in Kaiserswerth nicht mit der Rückkehr aller Schwestern, zogen sie doch, wie es eine zeitgenössische Schilderung formulierte, freiwillig „hinein in des Todes Rachen“.

Bereits am Ankunftsabend begannen sie mit ihrer Arbeit im Krankenhaus, wo sich ihnen ein Bild des Schreckens bot: „Als wir eben wußten, wo wir für die Nacht bleiben konnten, gingen wir zu den Kranken […] Auf dem Korridor gingen wir an Leichen vorüber. Als die Kranken die Schwestern erblickten, schrien sie nach Hülfe“ schrieb die leitende Schwester nach ihrer Rückkehr. Der Einsatz der Schwestern in einer Krisensituation wie in Hamburg stellte für sie trotz ihrer Glaubenstreue eine große seelische Belastung dar. Vor allem in der Anfangszeit litten sie durch häufige Nachtwachen unter Schlafmangel. Konnten sie doch einmal ausruhen, hämmerten nächtelang Tischler direkt unter ihren Fenstern an den Särgen aus rohem, unbehandeltem Holz, die mit Möbelwagen zu je 50 und 80 Särgen abgeholt wurden.

Die ausgesandten Schwestern kehrten Anfang Oktober 1892 wohlbehalten nach Kaiserswerth zurück, wo sie nach sechstägiger Quarantäne ihre gewohnten Tätigkeiten in Gemeinden und Krankenhäusern wieder aufnahmen. Nach dem Abklingen der Seuche hatte auch das Krankenhauskollegium Hamburg seine Sprache wieder gefunden und bedankte sich bei der Diakonissenanstalt mit einer prächtigen Urkunde für die „selbstlose und hingebende Hilfe“.

Die Berichte der Kaiserswerther Diakonissen aus der Cholerapflege führten innerhalb ihres Mutterhauses erstmals zu einer Verankerung von Grundstandards im Umgang mit ansteckenden Krankheiten in Ausbildung und Pflegepraxis.

Autorin:
Dr. Annett Büttner
Geschichtsagentur Kaiserswerth
Lehrbeauftragte der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf 

Literatur:
- Büttner, Annett: »Nachricht aus der Stadt des großen Elends»: Die Pflege von Cholerakranken in Hamburg im Jahr 1892 durch Kaiserswerther Diakonissen. In: Sabine Braunschweig (Hg.), Pflege-Räume, Macht und Alltag. Zürich 2006, S. 261-270
- Büttner, Annett: Konfessionelle Schwestern in der Cholerapflege. In: Jörg Vögele, Thorsten Noack, Stefanie Knöll (Hg.): Epidemien und Pandemien in Historischer Perspektive / Epidemics and Pandemics in Historical Perspective. Wiesbaden 2016, S. 149-161
- Evans, Richard J. : Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910. Reinbek 1996

Wir danken der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth für die Erlaubnis, die Fotos der Dokumente verwenden zu dürfen!

Veröffentlicht in der Galerie „Covid-19 & History" am 10.5.2020

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