Gewinnung von Pferdeserum als Heilmittel gegen Diphtherie | Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Diphtherie eine gefürchtete Kinderkrankheit. Sie war hoch ansteckend und verlief oft tödlich, manche Familien verloren innerhalb kurzer Zeit alle ihre Kinder. Da sich im Hals der Kranken bräunliche Verdickungen bildeten, nannte man sie auch Bräune. Die Membranen erschwerten die Atmung und konnten zur Erstickung führen. Die Ärzte halfen sich mit örtlichen Maßnahmen, zum Beispiel durch die Desinfektion des Mund- und Rachenraums. Das von den Bakterien gebildete Bakteriengift (Toxin) führte aber auch zu Herz- und Nierenschädigungen. Eine Therapie zur Bekämpfung der Bakteriengifte gab es nicht.
Der in Robert Kochs Hygiene-Institut forschende Arzt Emil von Behring (1854–1917) fand heraus, dass manche Tiere gegen Infektionskrankheiten immun waren. In ihrem Blut hatten sich „Antitoxine“ – also Gegengifte – gegen die Bakteriengifte entwickelt, und diese Antitoxine ließen sich auf andere Tiere übertragen. Sollte man sie nicht auch zur Behandlung erkrankter Menschen nutzen können?
Auf der Grundlage dieser Gedanken entwickelte Behring eine sogenannte Blutserumtherapie, die er nach und nach verfeinerte und bei erkrankten Kindern einsetzte. Der Erfolg war überwältigend, unheilbar krank erscheinende kleine Patientinnen und Patienten wurden innerhalb weniger Tage wieder gesund. Schon bald ließ er das Serum industriell anfertigen. Die Produktionsstätten waren jedoch keine herkömmlichen Fabriken, sondern Ställe, in denen Pferde als Blutserumproduzenten standen.
Eine solche Heilserumproduktion zeigt, stark vereinfacht, unsere Abbildung. Sie stammt von dem Berliner Maler und Illustrator Fritz Ferdinand Gehrke (1855-1916) und gewährt uns einen Einblick in einen der Pferdeställe des Behringwerks in Marburg. Wir sehen die Gewinnung des Heilserums mit Hilfe der „Serumpferde“. Zunächst werden die gesunden Tiere mit dem abgeschwächten Erreger der Diphtherie geimpft. In ihrem Blut bildet sich ein Antitoxin (Gegengift) gegen das Bakteriengift. Schließlich wird dem Tier Blut entnommen. Das Blutserum, also der flüssige Anteil des Blutes, enthält die therapeutisch wirksamen Bestandteile. Es wird gereinigt und dann für die Behandlung der an Diphtherie erkrankten Kinder verwendet. Die vier Männer im Bild demonstrieren die Vorbehandlung der Pferde (am Beispiel des braunen Pferdes links im Bild) und die Entnahme des Blutes aus der Halsader (am Schimmel rechts im Bild). Für dieses neuartige Heilprinzip erhielt Emil von Behring im Jahr 1901 den erstmals vergebenen Nobelpreis für Medizin. Als „Retter der Kinder“ ging er in die Medizingeschichte ein.
Die hier gezeigte Abbildung wird bis heute gerne verwendet, wenn die historische Blutserumgewinnung illustriert werden soll. Über ihre Herkunft und erstmalige Veröffentlichung ist bisher aber kaum geschrieben worden. Bei der Farblithographie handelt es sich um eine von drei doppelseitigen Falttafeln zu einem populärwissenschaftlichen Aufsatz Behrings mit dem Titel „Therapeutische Tierexperimente im Dienste der Seuchenbekämpfung“. Er ist Bestandteil einer zehnbändigen Enzyklopädie „Der Mensch und die Erde“. Die großformatigen Bände sind äußerst repräsentativ gestaltet: Sie sind in mit goldgeprägten Jugendstilornamenten verziertes Ganzleder gebunden, und in die vorderen Deckel sind Silberplatten eingelegt, die als Relief den die Weltkugel umklammernden Atlas zeigen. Im Inneren gibt es die Texte ergänzenden Zeichnungen und Fotografien, reliefgeprägte, zum Teil vergoldete Abbildungen, dazu ausklappbare Karten und Falttafeln. Konzipiert war die Enzyklopädie für das gehobene Bürgertum. In Text und Bild wurden die Leser anschaulich über den aktuellen Stand der Naturwissenschaft informiert, sei es durch die Beschreibung von Parasiten als Krankheitserreger, durch die bildliche Darstellung des Bierbrauens oder durch Einblicke in die Welt der Mineralien. Der auf insgesamt 4.500 Seiten angebotene Wissensfundus sollte – durch eine opulente Zahl von Abbildungen illustriert – gleichermaßen allgemeinbildend und unterhaltend sein.
Eine derart wichtige medizinische Errungenschaft wie die von Behring entwickelte Heilung der Diphtherie durch ein aus Pferden gewonnenes Serum (das, wie wir heute wissen, Antikörper gegen das von den Diphtherie-Bakterien gebildete Toxin enthielt) durfte in dieser Enzyklopädie nicht fehlen.
Autorin:
Dr. Ulrike Enke
Emil-von-Behring-Bibliothek
Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin
Bahnhofstr. 7
35037 Marburg
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für Covid-19 & History am 26.3.2020 überarbeitete Fassung der Objektgeschichte vom Januar 2018