Diagnosestellung III

Diphtherie – ein Gesicht der Krankheit | Covid-19 ist eine Pandemie ohne Gesicht, zumindest ohne ein Gesicht der Kranken. Was wir üblicherweise in den Medien vom Aussehen der Seuche präsentiert bekommen, ist ein Bild ihres Verursachers – eine plumpe Viruskugel mit rauer Oberfläche und roten Krönchen (daher „Corona“). Wenn es in der TV-Berichterstattung um die Betroffenen selber geht, die Schwerkranken zumal, werden die Gesichter aus Personen- und Datenschutzgründen ausgeblendet oder zumindest in ihren Augenpartien hinter den Gitterstäben der Intensivbetten versteckt.

Andere Seuchen entwickelten diesbezüglich deutlich mehr Profil. Die Gesichtszüge der Erkrankten haben sich nachhaltig in das visuelle Gedächtnis der Medizin eingeschrieben. Manchmal waren die Veränderungen so charakteristisch, dass es möglich war, eine „Blickdiagnose“ zu stellen: ein Antlitz übersät mit Pocken(narben) etwa; das wulstig veränderte „Löwengesicht“ (Facies leonina) von Leprakranken; die bleichen, ausgemergelten Züge eines schwindsüchtigen Tuberkulosekranken oder gar, bei schweren Verläufen einer Hauttuberkulose, die „fressende Wolfsflechte“ (Lupus vulgaris) über Nase, Wangen und Augenpartie.

Auch die Diphtherie hatte ihr „Gesicht“. Die hier gezeigte Wachsmoulage mit weit geöffnetem Kindermund belegt es eindrucksvoll. Bevorzugt befiel das Corynebacterium diphtheriae im 19. Jahrhundert in verheerenden Ausbreitungswellen Säuglinge und kleine Kinder in großer Zahl. Wie bei Covid-19 wählte der Erreger als Nistplatz und Vermehrungsort die Atemwege. Allerdings bevorzugte das Diphtherie-Bakterium den Rachenraum und dort vor allem die Mandeln – links und rechts. Die Schleimhäute verfärbten sich, gelblich-weißlich zunächst. Dann erhielten sie als Überzug eine bräunliche Membran und entwickelten einen faulig süßlichen Geruch. Vor allem jedoch schwollen sie an und behinderten die Atmung mehr und mehr. Schließlich bekamen die jungen Patienten kaum noch Luft und drohten zu ersticken.

Die Sterbezahlen Ende des 19. Jahrhunderts erreichten traurige Rekorde. Neben der Tuberkulose galt die Diphtherie, der „Würgeengel der Kinder“, als eine der großen Volksseuchen jener Tage. Lange Zeit waren die medizinischen Möglichkeiten beschränkt. Seit 1825 wagte man unterhalb des Kehlkopfes immer häufiger einen Schnitt. Kleine Röhrchen wurden in die Luftröhre eingesetzt, um die Atmung sicher zu stellen. Das Risiko waren Blutungen und Infektion. In den 1880er Jahren kamen Ärzte auf die Idee, über den Mund unmittelbar an den Ort der Schwellung hinten im Rachenraum oder gar, bei einer Kehlkopf-Diphtherie, direkt zwischen den Stimmritzen einen kurzen metallenen Hohlzylinder einzusetzen. Mit diesem Tubus sollte eine Luftbrücke geschaffen werden. Gefahr drohte jedoch auch hier: Das Röhrchen konnte – falls nicht gesichert – „verschluckt“ werden, tiefer in die Lunge rutschen und die Atemwege als Fremdkörper blockieren.

Die Wende brachte die Entwicklung eines Diphtherie-Antikörperserums 1890 durch Emil Behring (1854-1917) in Berlin. In Zusammenarbeit mit dem Farbenforscher und Giftexperten Paul Ehrlich (1854-1915) brachte Behring ab 1892 das Medikament in effektiven Chargen auf den Markt gebracht. Zwei Jahre später startete ein flächendeckender Einsatz des gereinigten Pferdeserums. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit an Diphtherie sank rapide.

Damit war zwar ein wirksames Gegenmittel gefunden; das Diphtherie-Heilserum ermöglichte sogar eine zeitlich begrenzte (passive) Immunisierung von nicht erkrankten Kindern. Die Erkrankung selbst war jedoch nicht vom Tisch (und ist es bis heute nicht). Sie musste in ihren Symptomen von Ärzten und Pflegenden, aber auch von den Eltern so früh es ging erkannt werden. Zur Schulung des diagnostischen Blicks halfen Bilder, möglichst realistische, die die verschiedenen Stadien des Leidens festhielten.

Fast zeitgleich mit der Entwicklung des Behringschen Antiserums war 1889 ein medizinisches Lehrmittel international bekannt geworden, das in der Folgezeit in vielen Kliniken weltweit, aber auch in öffentlichen Gesundheitsausstellungen und Hygienemuseen, ja sogar auf den Jahrmärkten und in Panoptiken Einzug hielt: die Moulage. Als direkt vom Kranken abgeformte und realistisch bemalte Wachsmaske hielt sie ein Krankheitsbild dreidimensional so lebensecht fest, wie kein anderes Medium. Abgeformt wurden alle bekannten Krankheitszeichen auf und in der Haut. Zur Darstellung kamen die äußeren Körperoberflächen, aber auch – technisch schwieriger und für die Patienten in der Fertigung durchaus belastend – die inneren. Viele Moulagen hielten Hautzeichen von Infektionskrankheiten fest, auch bei Diphtherie.

Die hier gezeigte Diphtheriemoulage wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Deutschen Hygiene-Museum Dresden als Kopie gefertigt. Ihre Form war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch zu Hochzeiten der Seuche, an einem erkrankten Kind abgenommen worden. Die gleiche Form diente dazu, in verschiedenen Wachsausgüssen unterschiedliche Stadien der Erkrankung wiederzugeben. Die späte Herstellung in unserem Fall verdeutlicht, wie lange die Diphtherie in der medizinischen Ausbildung und Gesundheitsaufklärung ein prominentes Thema geblieben ist. Bis heute finden sich Moulagen in Sammlungen etlicher Kliniken. Vielfach haben sie ihren Weg auch ins Museum gefunden. Dort werden sie als medizinhistorische Objekte beforscht und ausgestellt. In ihrer plastischen Eindrücklichkeit haben sie einer ganzen Reihe von Erkrankungen – so auch der Diphtherie – in ihren typischen Erscheinungsformen ein Gesicht gegeben.

Autor:
Prof. Dr. Thomas Schnalke
Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité
Charitéplatz 1
10117 Berlin
www.bmm-charite.de
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Veröffentlicht am 22.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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