Sterben III

Vom Versagen der Gesellschaft in Seuchenzeiten | Wenn wir von der aktuellen Pandemie sprechen, dann verwenden wir neutrale Bezeichnungen wie „Corona“ oder „Covid-19“ – wissenschaftliche Begriffe, die im Labor geprägt wurden. Dem Kundigen verraten sie etwas über die Art des Erregers und über die Datierung der durch ihn ausgelösten Epidemie, aber sie geben keinerlei Hinweis auf die Art der Krankheit oder auf ihre Folgen für die Gesellschaft.

Der Nürnberger Steinschneider, der 1596 das hier abgebildete, etwa handgroße Steinrelief anfertigte, wusste nichts von Erregern. Er hatte nicht die Auslösung, sondern die Auswirkungen einer Epidemie vor Augen, die er und seine Zeitgenossen ganz allgemein als „Sterben“ oder „Pestilenz“ bezeichneten und die heute oft unter der Sammelbezeichnung „Pest“ beschrieben wird.

Was ist hier zu sehen? Eine halb sitzende Frau, ein neben ihr liegender Mann, beide fast nackt, beide tot. Zur Rechten der Frau ein ganz nacktes, ebenfalls totes Kleinkind – nur ein weiteres Kleinkind hat überlebt. Eine Familie in Auflösung. Der Künstler verleiht hier dem eigentlichen Schrecken der Seuche eine Gestalt, er setzt den Tod in Szene. Und mehr noch: Diese Darstellung lässt sich auch als Gesellschaftskritik lesen. Sie prangert die völlige Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung und ein Verschwinden der zeitgenössischen Werte an. Gleich vier Verstöße gegen grundlegende moralische Gesetze der vormodernen Gesellschaft lassen sich hier herauslesen:

1) Die Körper der Erwachsenen zeigen Verwesungsmerkmale: Die Toten wurden nicht begraben. Dies kann als Anklage gegenüber der städtischen Regierung gelesen werden, die hätte Totengräber schicken müssen, aber auch als Anklage gegenüber den Nachbarn und städtischen Organisationen, deren Aufgabe es gewesen wäre, die Toten zu geleiten.

2) Ein lebendes Kleinkind sitzt auf dem Schoß der toten Mutter: Die Waisen und Hilfsbedürftigen wurden allein gelassen. Auch hier werden Obrigkeit, Nachbarn und zusätzliche städtische Organisationen angeprangert, deren Aufgabe als Christen und Bürger darin gelegen hätte, sich um Hilfsbedürftige zu kümmern.

3) Die fleckige Oberfläche des Specksteins deutet auf Schmutz, der auf Körpern und auf allen Oberflächen liegt: Damit weist der Künstler darauf hin, dass die Gebote der Reinlichkeit missachtet wurden. In diesem Fall wird zwar auch die Regierung beschuldigt, sich nicht hinreichend für die öffentliche Reinlichkeit eingesetzt zu haben und damit eine wirksame Prophylaxe vernachlässigt zu haben. Gleichzeitig erhält aber der Betrachter auch einen Hinweis auf das Selbstverschulden der verstorbenen Familienmitglieder, die sich nicht an ein Grundgebot bei Seuchengefahr, nämlich die Reinlichkeit von Räumen und Körpern, gehalten hatten.

4) Die Person auf dem Torbogen hält sich die Nase zu, bleibt aber sonst unbeteiligt: Hier verbirgt sich die massivste Kritik. Dieser „Beobachter“ steht stellvertretend für alle Stadtbewohner, die sich aus der Verantwortung für ihre Mitmenschen gezogen hatten. Mit seiner passiven Haltung verstößt er gegen grundlegende Pflichten: das Begraben der Toten, das Pflegen der Kranken, das Versorgen von Hilfsbedürftigen. Egoistisch greift er zum Selbstschutz: Er hält sich die Nase zu, um nicht durch die pestilenzialischen Ausdünstungen selbst „angesteckt“ zu werden.

So wird in diesem kleinen Relief die gesamte Nürnberger Gesellschaft des ausgehenden 16. Jahrhunderts beschuldigt, an den „großen Sterbensläuften“, die immer wieder über die Stadt kamen, eine Mitschuld zu tragen, weil sie aus Angst um die eigene Gesundheit ihre grundlegenden Wertvorstellungen vernachlässigte.

Autorin:
Dr. Annemarie Kinzelbach
DFG-Projekt „Das Schneidhaus der Fugger
Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt

Literatur:
- Kinzelbach, Annemarie: Warum die Pest aus vormodernen Reichsstädten verschwinden musste. Süddeutsche Beispiele. In: LWL-Museum für Archäologie (Hg.): Pest. Eine Spurensuche. Darmstadt 2019, S. 256-264
- Sturm, Patrick: Leben mit dem Tod in den Reichsstätten Esslingen, Nördlingen und Schwäbisch Hall. Ostfildern 2014

Wir danken dem Stadtmuseum Ingolstadt, dass wir das Steinschnittrelief in unserer Galerie vorstellen dürfen!

Veröffentlicht in der Galerie „Covid-19 & History“ am 6.5.2020

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