Soziale Distanz III

Der Aussatz als Muster für „social distancing“ | Der Kupferstich zeigt „die Kirche und Siech-Kobel zu St. Peter“. Wir sehen einen schlanken Kirchenbau mit angrenzenden und in einander übergehenden Hofgebäuden, umgeben von einem mit Bäumen bepflanzten und umzäunten Garten. Ein reichlich befahrener Weg führt unmittelbar an den Gebäuden vorbei. Hier treffen sich nach Auskunft der Bildlegende die Wege nach Altdorf und in die Stadt Nürnberg hinein, zum „Tutzendteich“, zum Gleishammer sowie nach Wöhrd. Eine idyllische, lebendige Szene.

Wer erkennt heute noch auf den ersten Blick, dass es sich hier um ein „Aussätzigenhaus“ handelt, ein sogenanntes Leprosorium? Genau das aber bedeutet der Begriff „Siech-Kobel“. Vier solcher Einrichtungen betrieb die Reichsstadt Nürnberg, noch auf städtischem Territorium, aber etwas außerhalb der Stadtmauern, jeweils da, wo die Fernhandelswege sich in die Wege zu verschiedenen Stadttoren verzweigten. St. Peter lag im Südosten an der Straße, die über Altdorf – seit 1622 Standort der nürnbergischen Universität – nach Regensburg führte: eine wichtige Handelsstraße zwischen zwei mächtigen Reichsstädten. Richtung Südwesten (an der Straße nach Augsburg) lag das Leprosorium St. Leonhardt, Richtung Nordwesten (an der Straße nach Frankfurt/Main) St. Johannis und Richtung Osten (am alten Kaiserweg nach Prag) schließlich St. Jobst.

Neben der mächtigen Stadtmauer rings um die Stadt gab es einen zweiten, durch die Aussätzigenhäuser markierten Ring, der Reisenden ankündigte, dass sie nun auf nürnbergischem Territorium waren und bald ihr Ziel erreicht haben würden. Auf 1,5 bis 2 Kilometer Entfernung war die Burg sicherlich bereits gut zu erkennen. Diese Lage ist ganz typisch für Aussätzigenhäuser, von denen seit dem ausgehenden Hochmittelalter Tausende auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik gegründet worden waren. So waren die Leprosen zwar einerseits „extra castra“, außerhalb des Lagers, untergebracht, wie es im Buch Levitikus des Alten Testaments gefordert wird. Andererseits konnten Sie auf diese Entfernung noch gut erreicht und versorgt werden. Die Versorgung geschah zu einem guten Teil durch Almosen. Denn es galt, dem Neuen Testament folgend, als besonders verdienstvoll, den Leprosen etwas zu schenken. Diese Gelegenheit nahmen die reisenden Kaufleute und auch BesucherInnen aus der Stadt offenbar gerne wahr.

Gut erkennbar sind die Gartenanlagen des Hauses. Sie waren ein beliebter Ausflugsort der NürnbergerInnen. Eine Hausordnung des 16. Jahrhunderts („Gepesserte vnnd Vernewte Ordnung“, 1571) bestimmte, dass den Leprosen und dem Publikum aus der Stadt sowie vorbei reisenden Kaufleuten zwei abgetrennte Teile des Gartens bestimmt waren. Jeder Teil verfügte über einen eigenen Brunnen. Den Leprosen wurde strengstens untersagt, den Brunnen in dem „großen Garten“ zu benutzen, der den BesucherInnen vorbehalten war, weil dadurch „die andern gesundten leichtlich vervnrainiget vnnd vergift werden mochten.“ Die Köchin des Hauses, so erfahren wir dort ebenfalls, bot an Sonn- und Feiertagen vor dem Gottesdienst Lebkuchen und Branntwein feil. Sobald die Glocke den Beginn des Gottesdienstes meldete, musste sie ihr Geschäft allerdings aufgeben. Nun trat der Hausmeister auf den Plan, dem offenbar ebenfalls Nebengeschäfte vergönnt waren. Wenn diesem ausdrücklich untersagt wurde, „einigen burger oder inwohner dyser Stat deßgleichen des benachparten einichen getrenck von wein oder bier vor vnd vnter der predig nit hinauß zugeben“, kann das nur bedeuten, dass es erstens bereits vorgefallen war, zweitens und vor allem aber, dass er „die frembden furwanderten personen“ weiter bewirten durfte, bis sich wohl nach dem Gottesdienst Einheimische und Reisende wieder zum fröhlichen Feiern zusammen fanden.

Autor:
Prof. Dr. Fritz Dross
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Literatur:
- Christoph Melchior und Matthäus Roth; Prospecte aller Nürnbergischen Stædtlein, Markt-Flecken, und Pfarr-Dörffern, accurat abgezeichnet von M. G. Lampferdtinger […]. Nürnberg 1760
Link zum Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt
- Fritz Dross: „Ich aber will hinauß spatziern, Da ich frisch, frey und sicher bin …“. Aussatzpraktiken im frühneuzeitlichen Nürnberg- In: Guy Thewes / Martin Uhrmacher (Hg.), Extra muros: Vorstädtische Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Espaces suburbains au bas Moyen Âge et à l'époque moderne. Köln / Wien 2019, S. 299–331

Veröffentlicht am 16.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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