Prävention IV

Von richtigen Mitteln an falschen Orten | Am letzten Donnerstag hat US-Präsident Donald Trump für einige globale Aufregung gesorgt, weil er ernsthaft vorschlug, die Injektion von Desinfektionsmitteln als Therapie gegen die Covid-19-Infektion zu prüfen. Leider wissen wir nicht, wohin er das Desinfektionsmittel eigentlich spritzen wollte – ins Blut, also intravenös, oder irgendwo anders „in den Körper"? Seine späteren Versuche, das Ganze als sarkastische Bemerkung gegenüber unfähigen Journalisten abzutun, waren jedenfalls wenig überzeugend.

So dumm dieser Vorschlag ist, hat er zunächst eine gewisse Plausibilität. Ein Desinfektionsmittel dient dazu, Krankheitserreger auf Gegenständen oder Körperoberflächen – insbesondere den Händen – unschädlich zu machen. Warum nicht dasselbe Prinzip auf Viren anwenden, die schon in den Körper eingedrungen sind? Es ist, wie immer in der Arzneimittelkunde, eine Frage der Dosis bzw. der Konzentration: Was auf der Haut erträglich ist, weil es nicht eindringt, kann im Körperinneren in derselben Konzentration ein tödliches Gift sein.

Ohne Trump verteidigen zu wollen, muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Medizin in ihrer Geschichte das eine oder andere Mittel in den menschlichen Körper hineingegeben hat, bei dem man sich heute die Augen reiben würde (wenn man sich denn ins Gesicht fassen dürfte). Ein solches Mittel ist Formamint, das, wie die Werbeanzeige aus der Vossischen Zeitung von 1907 zeigt, ausdrücklich auch zur Vorbeugung bei Epidemien eingesetzt werden sollte. Die Tabletten enthielten – und da reibt sich der Anatom tatsächlich die Augen – als Wirkstoff Formaldehyd (Formalin). Sie sollten gelutscht werden und dabei ihr Formaldehyd freisetzen, damit dieses in der Mundhöhle Bakterien töten kann. Es gibt Werbeanzeigen der Firma Bauer aus derselben Zeit, die empfahlen, jedem Kind vor dem Schulgang eine solche Tablette in den Mund zu stecken!

Nun ist Formalin eher bekannt als eine Flüssigkeit, mit der in der Anatomie Körper und Körperteile konserviert werden – anatomische Sammlungen bestehen im Allgemeinen aus Gläsern voller Formalin. Kaum jemand käme auf die Idee, diese Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Inzwischen darf Formalin wegen seiner Gesundheitsschädlichkeit nur noch unter großen Sicherheitsvorkehrungen verwendet werden. Insbesondere für die Konzentration von Formaldehyd, das in die Atemluft gelangt, gelten immer strengere Grenzwerte.

Formaldehyd ist dabei durchaus gegen Viren und Bakterien aktiv. Als Desinfektionsmittel wurde es vielfach eingesetzt. So sagt zum Beispiel Hans Castorp, der Protagonist in Thomas Manns „Zauberberg“, nachdem sein Zimmer im Sanatorium mit der Substanz „ausgeräuchert“ wurde: „[...] das hält die stärkste Bakterie nicht aus, - H2CO, aber es sticht in die Nase, nicht?"

Auch in der Entwicklung von Impfstoffen spielte Formaldehyd eine Rolle: Für den berühmten ersten wirksamen Impfstoff gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis) behandelte der US-Amerikaner Salk 1955 Viren mit Formaldehyd, so dass der Impfstoff nur noch abgetötete Viren enthielt, die nicht mehr infektiös waren.

Diese schon länger bekannte Wirksamkeit erklärt wohl, dass Ende des 19. Jahrhunderts die Idee aufkam, Formaldehyd auch als aktive Substanz in Lutschtabletten zu verabreichen, um Krankheitserreger in der Mundhöhle zu bekämpfen. Ein Dr. Paul Rosenberg aus Berlin veröffentlichte 1896 seine Untersuchungen des Formaldehyds als Arzneimittel. Er führte dazu sogar Selbstversuche mit der Einnahme ansteigender Dosen von Formaldehyd in Milchzuckerlösung durch – und schrieb: „Mein Allgemeinbefinden blieb dauernd gut". Diese Idee überzeugte offenbar auch international. Im British Pharmaceutical Codex von 1934 findet sich folgende Rezeptur für 100 „Formamint"-Tabletten:

Paraformaldehyd 0,97 g
Menthol 0,26 g
Zitronensäure 1,94 g
Zitronenöl 0,03 ml
Gummi arabicum 9,72 g
Saccharose 87,08 g.

Eine Formamint-Tablette enthielt also etwa 10 mg Formaldehyd. Nach heutigen toxikologischen Angaben zur Giftigkeit der Substanz würde eine solche Tablette ausreichen, um eine Maus umzubringen, für eine Ratte bräuchte man zwei bis drei Tabletten. Für den Menschen sind solche Angaben schwerer erhältlich, aber grob geschätzt würde man bei einem Erstklässler ab 20 bis 30 Tabletten mit Lebensgefahr rechnen müssen. Obwohl die Giftigkeit von Formaldehyd und sein krebserregendes und Allergie-auslösendes Potenzial über die Jahre immer bekannter wurden, wies noch 1985 der Spiegel erstaunt darauf hin, dass in mehreren im Handel erhältlichen Dragees gegen Halsschmerzen der Hauptwirkstoff Formaldehyd enthalten sei.

So wurden also über Jahrzehnte, wenn auch in wohlmeinender Absicht, Menschen giftigen Substanzen ausgesetzt. Das ist umso schlimmer, als sich zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, dass Desinfektionsmittel in Mund- und Rachenmitteln sowieso nicht gegen Infektionen wirksam sind, weil sie nie in ausreichenden Konzentrationen an die möglichen Erreger herankommen. Kamille oder Eukalyptus sind gesünder und genauso hilfreich. Desinfektionsmittel sollten weder gegessen noch getrunken noch gelutscht werden – und erst recht nicht gespritzt.

Autor:
Prof. Dr. Andreas Winkelmann
Institut für Anatomie
Medizinische Hochschule Brandenburg – Theodor Fontane
Fehrbelliner Str. 38
16816 Neuruppin

Literatur:
- Anonymus: Umweltgift in Lutschtabletten. In: Der Spiegel Heft 3, 1985, S. 157, link
- Anonymus: Wie lange noch unnötige Rachentherapeutika? In: arznei-telegramm Heft 10, 2002, link
- Pharmaceutical Society of Great Britain: British Pharmaceutical Codex. London 1934, S. 1459
- Rosenberg, Paul: Ueber Wirkungen des Formaldehyds in bisher nicht bekannten Lösungen – Vorläufige Mittheilung. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 22 (1896), S. 626-627

Veröffentlicht am 30.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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