Impfen VI

Die Polio-Impfung als Politikum | Gegenwärtig bemühen sich WissenschaftlerInnen weltweit um die Entwicklung eines Impfstoffes zur Immunisierung gegen die Covid-19-Erkrankung. Es ist zu erwarten, dass in diesem Wettlauf verschiedene Länder fast gleichzeitig zu Ergebnissen gelangen. Zugleich dürfte eine Diskussion darüber entstehen, welcher Impfstoff aus welchem Land der sicherste und vertrauenswürdigste sei und ob es eine Impfpflicht geben sollte. Dabei könnten auch Motive eine Rolle spielen, die über eine rein fachliche Bewertung hinausgehen. Um für diese Gefahren eine gewisse Sensibilität zu entwickeln, erscheint ein kritischer Rückblick auf die Probleme bei der Entwicklung, Testung und Einführung der Impfung gegen die Poliomyelitis (Kinderlähmung, kurz: Polio) in den 1950/60iger Jahren sicherlich hilfreich. Eine besondere Brisanz gewannen diese Fragen im Kontext des Kalten Krieges.

Für die DDR, die Prävention und Prophylaxe zu erstrangigen gesundheitspolitischen Anliegen erklärt hatte, bot sich die Chance, mit einer erfolgreichen Durchsetzung von Impfprogrammen vor der WHO die Überlegenheit des sozialistischen Systems zu demonstrieren. Im Selbstverständnis des DDR-Staates erschien die Durchsetzung einer solidarischen Pflicht zur Vorsorge unproblematisch, da in der marxistisch-leninistischen Ideologie davon ausgegangen wurde, dass durch die „Aufhebung der Klassengegensätze“ eine Übereinstimmung der Interessen des Staates mit denen seiner Bürger erreicht würde. In der Bundesrepublik wurde hingegen die mit der Impfpflicht verbundene Einschränkung der Freiheitsrechte des mündigen Bürgers stark gewichtet. Insofern konkurrierten im Wettbewerb um den besser vorsorgenden Sozialstaat auch die Ansätze einer auf Freiwilligkeit beruhenden Impfung in der BRD mit einer Impfpflicht in der DDR.

Mit einem Impfausweis wie dem hier gezeigten gingen alle DDR-BürgerInnen eine Quasiverpflichtung zu einer ansehnlichen Zahl von Impfungen ein. Das unscheinbare Heftchen war in der DDR ein wichtiges Dokument. Neben Impfungen wurden darin auch durchgemachte Infektionskrankheiten, Komplikationen, Zurückstellungen von Impfungen und sogar die Ferienlagertauglichkeit vermerkt. Die Ausweise waren bei vielen ärztlichen Konsultationen vorzulegen und haben oft deutliche Gebrauchsspuren. Der zumeist auf der Rückseite des Ausweises abgedruckte Impfkalender verzeichnete zur Übersicht und Erinnerung die für das jeweilige Lebensalter vorgesehenen Impfungen. Die Aufforderung zur Impfung wurde ernst genommen. Spätestens wenn die Aufnahme der Jüngsten in Kinderkrippe oder Kindergarten bevorstand, mussten die Impfungen nachgewiesen werden. Kürzlich hat sich auch die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Masernschutzimpfung für genau dieses Procedere entschieden.

Die durch Viren verursachte hochinfektiöse Poliomyelitis trat insbesondere in den 1950er Jahren weltweit epidemisch auf. Die Suche nach einem geeigneten Impfstoff verknüpfte sich vor dem Hintergrund der Ost-West-Systemauseinandersetzung zugleich mit der Konkurrenz zweier unterschiedlicher Impfstoffentwicklungen und Erprobungsstrategien.

Schon 1952 führte der Arzt und Immunologe Jonas Edward Salk (1914-1995) erste Tests mit einer Vakzine aus inaktivierten bzw. „toten“ Polioviren (IPV) durch, die 1955 eine Zulassung erhielt. Dieser Impfstoff stand zwar seit 1957 auch in der Bundesrepublik zur Verfügung, wurde jedoch nicht ausreichend angenommen. Eine Impfpanne in den USA, bei der noch aktive Polioviren in den Impfstoff gelangt waren, dürfte die Zurückhaltung der Bevölkerung und der Behörden bestärkt haben. Nur 6 Millionen Kinder erhielten einen Impfschutz. Nachdem 204 der Geimpften an Polio erkrankt waren, riet die „Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung“ von Massenimpfungen mit dem Salk-Impfstoff ab.

In der DDR wurden zunächst der Salk-Impfstoff und schließlich eine auf aktiven, aber abgeschwächten Polioviren basierende oral zu verabreichende Vakzine (OPV) in kleineren Serien getestet. Dieser Lebend-Impfstoff des US-amerikanischen Virologen Albert Sabin (1906-1993) war bereits 1956 weitgehend fertig entwickelt worden. Da die Salk-Vakzine bereits auf dem Markt war, boten sich für Sabin in den USA aber nur schlechte Voraussetzungen für eine umfassende Testung. Die Sowjetunion offerierte ihm bessere Möglichkeiten. Am Moskauer „Institut der Akademie der Medizinischen Wissenschaften für Poliomyelitis und Virusenzephalitis“ entwickelte Sabin in Kooperation mit Michail Tschumakov (1909-1993) seinen Impfstoff weiter. Dieser wurde in der UdSSR, aber auch in anderen sozialistischen Ländern zunächst in kleineren Impfserien getestet. 1959 begannen Massenimpfaktionen. Neben der UdSSR, Ungarn, Polen, der ČSR, Bulgarien, Jugoslawien und der Schweiz gehörte die DDR zu den ersten Ländern, die die Schluckimpfung einführten.

Eine erste Massenimpfaktion erfasste 1960 in der DDR 86 % aller 1- bis 21-Jährigen. Erst ab 1961 wurde die Impfung verpflichtend. Die Zahl der Polioerkrankungen ging daraufhin rapide zurück. Während 1955 bis 1959 zwischen 1.000 und 2.000 Fälle im Jahr aufgetreten waren, betrug deren Zahl nach Einführung der Schluckimpfung nur noch 132. In den Jahren 1961 und 1962 registrierten die Behörden nur noch 3 Erkrankungen; seit 1963 gilt die DDR als poliofrei. Allerdings erkrankten 22 Personen im Zeitraum von 1963 bis 1983 an einer Kinderlähmung, die durch den Impfstoff selbst ausgelöst worden war (Impfpoliomyelitis).

Die Zurückhaltung der BRD bei der Einführung eines Impfstoffs und die zunächst nicht ausreichend fruchtenden Impfaufrufe hatten fatale Folgen. 1960 erkrankten über 4.000 Personen, 254 von ihnen starben. Ein weiterer Zwischenfall verstärkte die behördliche Skepsis gegenüber der Sicherheit der verfügbaren Impfstoffe: Im Mai 1960 hatte man in Westberlin das Eindringen abgeschwächter Polioviren durch „Virenausscheider“ aus dem bereits stark durchimpften Ost-Berlin befürchtet, so dass hier in aller Eile ein vom US-Amerikaner Herald Cox (1907-1986) entwickelter Schluckimpfstoff in Form eines nach Kirschwasser schmeckenden Cocktails verabreicht worden war. 23 der 280.000 auf diese Weise geimpften WestberlinerInnen erkrankten daraufhin an Polio – möglicherweise aber auch, weil sie zu diesem Zeitpunkt schon infiziert gewesen waren.

Die letzte große Epidemie traf die Bundesrepublik 1961. 5.600 Menschen erkrankten, 272 starben und bei etwa einem Dreiviertel der Erkrankten traten Lähmungserscheinungen auf. Mitten in die Epidemie hinein platzte das Hilfsangebot der DDR-Regierung, sofort 3 Mil­lionen Einheiten des Sabin-Tschumakov-Impfstoffs zu liefern. Aus der misslichen Situation, auf „Entwicklungshilfe“ aus dem Osten angewiesen zu sein, befreite man sich mit der Begründung einer noch nicht ausreichend nachgewiesenen Prüfung des Impfstoffs und lehnte dankend ab. Erst 1962 erfolgte eine groß angelegte, durch massive Aufklärungskampagnen vorbereitete Schluckimpfungsaktion an 22 Millionen BundesbürgerInnen, die die Erkrankungszahlen noch im selben Jahr stark zurückgehen ließ.

Obwohl die Erfolgsgeschichte der DDR-Impfpflicht wahrgenommen wurde, hielt man in der BRD am Freiwilligkeitsprinzip fest. Die Erfolge der Massenimpfungen verdrängten die Polio allmählich aus dem Bewusstsein, so dass die Impfbeteiligung stetig nachließ. Ende der 1970er Jahre waren wieder 15 bis 30 Erkrankungsfälle pro Jahr zu registrieren. Den letzten Poliofall in Deutschland gab es 1990. Mittlerweile ist der Durchimpfungsgrad der Bevölkerung unter die von der WHO empfohlenen 95 % gesunken.

Angesichts der hohen Werte, die auf dem Spiel stehen, wäre zu hoffen, dass zukünftige Entscheidungen um das Für und Wider bestimmter Impfstoffe frei von politischen Ressentiments auf objektiv-fachlicher Grundlage getroffen werden. Die beiden Impfstoffentwickler Salk und Sabin sahen sich im Übrigen, wie sie selbst betonten, keineswegs in einer erbitterten Konkurrenz, sondern in einem fairen wissenschaftlich-sachlichen Wettstreit.

Zur Eindämmung von Covid-19 will eine von der EU initiierte internationale Geberkonferenz nun die Kräfte zur Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und Tests weltweit bündeln und die Forschungen finanziell unterstützen – auch um zu verhindern, dass in nationalen Alleingängen ein Impfstoff nur der eigenen Bevölkerung zur Verfügung gestellt wird. Letztlich geht es nicht nur um die Herstellung eines Impfstoffes, sondern auch darum, ihn allen verfügbar zu machen, was – vor allem mit Blick auf die ärmeren Länder – die nächste globale Herausforderung sein dürfte.

Autor/in:
Dr. Hartmut Bettin
Kathrin Pscheidl, M.A.
Universitätsmedizin Greifswald
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Ellernholzstr. 1-2
17487 Greifswald

Literatur:
- Dittmann, S.: Elimination der Poliomyelitis in der DDR. Polio-Nachrichten Nr. 2/2006, S. 11f.
- Sabin, A. B.: Role of my cooperation with Soviet scientists in the elimination of polio: possible lessons for relations between the U.S.A. and the USSR. Perspect Biol Med. 31/1 (1987), S. 57-64
- Thießen, M.: Vorsorge als Ordnung des Sozialen. Impfen in der Bundesrepublik und der DDR. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 409-432
- Polio-Impfung: Aus dem Schnapsglas. Spiegel vom 19.7.1961, S. 59f.

Internetquelle:
- Polio Initiative Europa e.V.: Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam und Post-Polio-Syndrom ist bitter. Vor 50 Jahren: Erste Polio-Schluckimpfung 1962 in der Bundesrepublik. In: Newsletter März 2012 link

Veröffentlicht in der Galerie „Covid-19 & History" am 8.5.2020

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