Impfen IV

Ansporn zur Impfung | Kaum wurde über den Start der ersten klinischen Studie zur Erprobung eines Impfstoffs gegen Covid-19 berichtet, nimmt auch die Diskussion Fahrt auf, wie man eine möglichst rasche Durchimpfung der Bevölkerung erreichen könnte. Impfzwang? Oder motivierende Maßnahmen? Ein Beispiel für den letztgenannten Weg ist der hier vorgestellte „Impftaler".

„Geimpft – geschützt" steht auf dem Avers, der Vorderseite des silberfarbenen „Talers". Die Worte flankieren einen abstrahierten Engel, vor dem eine kleinere menschliche Gestalt steht. Den Revers, die Rückseite, zieren zwei steigende Löwen, die das große bayerische Staatswappen halten. Der „Taler" wurde im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums des Innern geprägt. Er hat etwa die Größe eines 2-Euro-Stückes. Im Unterschied zu diesem diente er aber niemals dem Zahlungsverkehr. Als „Marke" ist er daher mit Münzen nur in der äußeren Form, nicht aber in der Funktion vergleichbar.

In der numismatischen Sammlung des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt sind über vierzig identische Exemplare dieses „Impftalers" verwahrt. Sie sind Beleg für eine PR-Kampagne im bayerischen Gesundheitswesen, die anlässlich einer von mehreren Impfaktionen in der Bundesrepublik zum Schutz gegen die Kinderlähmung (Poliomyelitis) durchgeführt wurde.

In Bayern wurde der erste Polio-Fall 1913 aktenkundig. Von 1937 bis 1960 folgten sieben weitere Epidemien. Bei der letzten wurden 1.128 Erkrankungen mit 923 Lähmungen und 69 Sterbefällen auf 100.000 Einwohner gemeldet. In anderen Gebieten Europas war es nicht besser. Ab 1960 führte die DDR daher die freiwillige Impfung gegen die Kinderlähmung ein. Die BRD folgte zwei Jahre später. Doch da die Polio-Impfung in der Öffentlichkeit höchst kontrovers diskutiert wurde, hatten viele Angst vor möglichen schädlichen Folgen. Um einen Anreiz in der Bevölkerung zu schaffen, sich impfen zu lassen, konzipierte deshalb Professor Dr. Helmut Stickl, der Leiter der Bayerischen Landesimpfanstalt, 1973 den Impftaler. Er sollte nach Abschluss der freiwilligen Polio-Impfung an die Kinder ausgegeben werden.

Die Idee dazu könnte aus den USA gekommen sein. Nachdem dort im Jahr 1938 der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt selbst an Polio erkrankt war, rief er die Bevölkerung auf, ihre „Dimes" – silberfarbene Münzen im Wert von einem Zehntel Dollar – für die Nationale Stiftung für Kinderlähmung zu spenden. Der alljährliche „March of Dimes" fand bis 1962 statt und brachte insgesamt ca. 630 Millionen Dollar ein, die mit Erfolg in die Entwicklung einer Schutzimpfung flossen.

Der Stickl‘sche Impftaler birgt in der Abstraktion seiner Figuren-Kombination ein hohes Identifikationspotenzial. Appelliert wird mit der Darstellung auf dem Avers an den seit dem 18. Jahrhundert populären Schutzengel-Glauben. Im Bereich der privaten Frömmigkeit verschmelzen darin zum einen die individuelle Zuordnung eines Engels zu einem Menschenkind und zum anderen die Errettung aus Gefahr. Die Zuordnung erfolgt je nach Auffassung mit der Geburt, der Taufe oder wie hier der Impfung. Es handelt sich damit um einen ausschließlich diesseits-bezogenen Schutz, der mit den erstmals von Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert nach Christus erwähnten „custodes angeli" (Beschützer-Engel) nicht mehr viel gemein hat. Wie auch bei den seit der frühen Neuzeit beliebten Darstellungen des Erzengels Raphael mit dem jugendlichen Tobias ging es ursprünglich nicht um den körperlichen, sondern den seelischen Schutz. Die vielleicht ältesten Frontaldarstellungen, bei denen ein Engel die kindlich kleine Seele behütend auf den Schoß nimmt, finden sich in benediktinischen Psaltern der ersten Jahrtausendwende. Doch der heutige Betrachter mag sich vielleicht zunächst an den deutschlandweit bekannteren Blauen Umweltengel erinnert fühlen, der fünf Jahre nach dem Taler im gleichen Duktus geschaffen wurde. In Bayern kann überdies das Münchner Kindl hineingelesen werden.

Laut Robert Koch Institut wurde 1990 die letzte in Deutschland erworbene Poliomyelitis durch ein Wildvirus erfasst. Inzwischen sei die Welt „an den Rand der Poliofreiheit gebracht”, das von der WHO erklärte Ziel der globalen Polio-Eradikation sei zum Greifen nahe. Bis 2023 könnte es erreicht sein. Dann wäre die Kinderlähmung – nach den Menschenpocken – die zweite Infektionskrankheit, die durch konsequente, weltweit durchgeführte Impfkampagnen zum Verschwinden gebracht wurde. Wir können nur hoffen, dass man das auch einmal von Covid-19 sagen kann.

Autorin:
Dr. Maren Biederbick, Ingolstadt
ehem. wiss. Volontärin am Deutschen Medizinhistorischen Museum

Literatur:
- Bahn, Peter: Schutzengel, Schutzgeister, Schutzgötter. Das Deutsche Schutzengel-Museum in Bretten. Bretten 2012, S. 35-36
- Dobson, Mary: Seuchen, die die Welt veränderten. Von Cholera bis SARS. Hamburg 2009
- Hein, E.: Erfahrung über die Polio-Schluckimpfung in Bayern und weitere Ausblicke. In: Bayerisches Ärzteblatt 17 (1962), S. 538-554
- Hilber, Hermann: Differentialdiagnostische Erwägungen bei Begleiterscheinungen der Polio-Schluckimpfung. In: Bayerisches Ärzteblatt 17 (1962), S. 448-453
- Robert Koch Institut: Die globale Polio-Eradikation ist zum Greifen nahe – Ziel ist das Jahr 2023. In: Epidemiologisches Bulletin vom 4.4.2019 link
- Schede, Franz: Die orthopädische Behandlung der spinalen Kinderlähmung, mit einer Einführung von Oberarzt Dr. Berthold Borschel. München 1954 (= Aus Theorie und Praxis der Krankengymnastik 3)
- Schnupp, Bianca: Schutzengel. Genealogie und Theologie einer religiösen Vorstellung vom Tobitbuch bis heute. Tübingen 2004 (= Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 9)
- Thum, Agnes: Schutzengel. 1200 Jahre Bildgeschichte zwischen Devotion und Didaktik. Regensburg 2014 (= Studien zur christlichen Kunst 9)
- Universitätsbibliothek Gießen (Hg.): Hundert Jahre Impfgesetz. Gießen 1974, S. 15
- Weber, G.: Die Poliomyelitisschutzimpfung. In: Albert Herrlich (Hg.), Handbuch der Schutzimpfungen. Berlin 1965, S. 482-511
- Wendeler, Rolf: Der Schutzengel in der Volksfrömmigkeit. Der Schutzengel auf Andachtsbildern, im Hausaltar, zur Wallfahrt und Prozession, Kommunion und Konfirmation; Beschützer in Not, Gefahr und Begleiter in das Jenseits. München 1998 (= ZAM-Schriftenreihe)

Veröffentlicht am 24.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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