Beatmung II

Die „Medi-Lunge“ – eine Zeitzeugin der Polioepidemien in der DDR | „Von einer Epidemie kann nirgendwo im Gebiet der DDR gesprochen werden.“ Mit diesen Worten beschwichtigte Gesundheitsminister Luitpold Steidle in einer Pressemitteilung vom 19. August 1953 die eigene Bevölkerung. Zugleich warf er westdeutschen Medien vor, die Situation bewusst zu dramatisieren, um die Leipziger Herbstmesse zu stören. Tatsächlich grassierte jedoch seit Ende Juli im Süden der DDR eine schwere Polioepidemie. Acht Eiserne Lungen mussten aus der BRD importiert werden. Schnelles Handeln war das Gebot der Stunde, denn bis Mitte August waren bereits über 1.300 Personen erkrankt. Die zu diesem Zeitpunkt in der DDR vorhandenen 18 Eisernen Lungen reichten für die große Zahl der Atemgelähmten nicht mehr aus – eine Situation, die uns angesichts ähnlicher Probleme in der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie sehr vertraut erscheint.

Bis 1952 produzierte in der DDR ausschließlich die Leipziger Firma Zimmermann Eiserne Lungen. Die Apparate waren allerdings störanfällig und schwer handhabbar, so dass man sich für eine komplette Neuentwicklung entschied. Es galt, die DDR „störfrei“, das heißt unabhängig von Westimporten zu machen. Den Forschungs- und Produktionsauftrag erhielt Ende 1952 der VEB Medizintechnik Leipzig. Der Anlauf der Produktion gestaltete sich äußerst schwierig, da geeignete Produktionsräume und auch Fachkräfte fehlten. Der Zeitdruck war groß. Bereits zur Leipziger Herbstmesse 1953 sollte die neue „Medi-Lunge“ vorgestellt werden. Sie sah der Lübecker „Dräger-Lunge“, die kurz zuvor auf den Markt gekommen war, verdächtig ähnlich. Die Planauflage für 1954 beinhaltete 26 Geräte zum Stückpreis von 15.000 DM.

Während die Erkrankungszahlen in den folgenden Jahren zurückgingen, nahm die Produktion der Medi-Lunge in Leipzig erst richtig Fahrt auf. Fehlerlos waren die neuen Geräte nicht. Die Kliniken monierten immer wieder kleinere und größere Probleme. In den Sitzungen einer eigens gebildeten Arbeitsgruppe „Beatmungsgeräte“ des Arbeitskreises „Medizintechnik“ beklagte man insbesondere Ölverlust, fehlerhafte Frequenzanzeigen, ausgefallene Alarmklingeln, Aufhitzung des Innenraums durch das Antriebsaggregat, Undichtheiten der Gummimanschetten und Verriegelungsprobleme. Auch die jeweils geplante Auslieferung der Geräte verzögerte sich immer wieder, 1955 beispielsweise aufgrund eines Engpasses an Plexiglas. Eine für 1956 geplante Hilfslieferung von zehn Geräten nach Argentinien musste ganz abgesagt werden.

Nach planwirtschaftlichen Maßgaben hatten Krankenhäuser und Universitätskliniken bereits ein Jahr im Voraus die von ihnen benötigte Medizintechnik zu bestellen. So kam es im Falle der Medi-Lunge zu einer für die DDR ungewöhnlichen Überproduktion. Während in Leipzig 1955/1956 die Produktion auf Hochtouren lief, war man insbesondere im gut versorgten Berlin von der Notwendigkeit, weitere Geräte anzuschaffen, nicht mehr überzeugt. Aus Berliner Kliniken hieß es bereits 1956: „Berlin ist derartig mit Eisernen Lungen eingedeckt, dass es also nicht erforderlich ist, noch mehr einzusetzen. Außerdem werden 20 Kleingeräte (Beatmer) gekauft, die sich als geeigneter erwiesen haben.“ Ein weiteres Motiv für die zunehmend ablehnende Haltung der Kliniken dürfte auch in der Größe der Geräte begründet gewesen sein. In epidemiefreien Zeiten blockierten die 400 kg schweren Kolosse wertvollen, ohnehin nicht ausreichend vorhandenen Platz.

International war die Eiserne Lunge als alternativlose Beatmungsmaschine schon früher auf den Prüfstand gestellt worden. Die weltweite Polioepidemie von 1952 verhalf einem anderen Beatmungsprinzip zum Durchbruch und leitete zugleich die schrittweise Abkehr von der Beatmung in der Eisernen Lunge ein. Es war eine dramatische Situation, als im Sommer 1952 in Kopenhagen innerhalb kürzester Zeit 2.300 Menschen an der Poliomyelitis erkrankten. Für die Behandlung der außergewöhnlich zahlreichen Atemgelähmten gab es jedoch nur eine Eiserne Lunge. In dieser Ausnahmesituation entschied man sich, die betroffenen PatientInnen nach einem Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) mittels Atembeutel manuell zu beatmen. Über 1.000 Pflegekräfte und MedizinstudentInnen wechselten sich dabei über Wochen im Schichtsystem ab.

Diese Beatmungsmethode war zwar längst bekannt, doch zuvor nur für die kurzfristige Unterstützung bei beatmungspflichtigen Notfällen und Operationen zum Einsatz gekommen. Während ein Wechsel von Unter- und Überdruck in der Eisernen Lunge die Spontanatmung imitierte, wurde nunmehr angefeuchtete Luft dosiert in die Lunge hineingepresst (Einatmung) und anschließend das ausströmende Kohlendioxid absorbiert (Ausatmung). Dafür wurde entweder ein Beatmungsschlauch (Endotrachealtubus) über den Rachen in die Luftröhre eingeführt oder (wie in Kopenhagen) ein Zugang über einen Luftröhrenschnitt geschaffen. Der überraschende Erfolg der Methode, die die Sterblichkeit der schwer Atemgelähmten von über 80 % auf 20 % herabsetzte, markierte den Beginn einer neuen Ära. Mit dem nach seinem Erfinder benannten „Engström-Respirator“ (Mivab, Stockholm) und dem „Poliomat“ (Dräger, Lübeck) entstanden moderne Geräte zur Langzeitbeatmung, die wenig später die personalintensive Beutelbeatmung ersetzten.

Diese neuen Entwicklungen wurden auch in der DDR registriert und diskutiert. Seit Mitte der 1950er Jahre importierte man etliche Poliomaten, denn Geräte aus eigener Produktion gab es noch nicht. Spätestens 1958 erlosch das Interesse der DDR-Kliniken an Eisernen Lungen gänzlich und der VEB Medizintechnik Leipzig bekam entsprechende Absatzprobleme. Dennoch hielt man in der DDR, aber auch in der BRD, zunächst weiter am Einsatz der Eisernen Lunge fest. Dies wurde über einen längeren Zeitraum kontrovers diskutiert. Ulrich Strahl, Leiter des ersten interdisziplinären Beatmungszentrums in Berlin-Buch, bekannte sich bereits 1958 vorbehaltlos zur Endotrachealbeatmung. Eine Weiterproduktion von Eisernen Lungen hielt er für überflüssig, da sie ohnehin mehrheitlich ungenutzt blieben. Albert Kukowka, Vorsitzender des Poliomyelitis-Ausschusses der DDR, sprach von der „Entthronung“ der Eisernen Lunge und resümierte selbstkritisch, dass er zu lange an ihrem Einsatz und ihrer Fortentwicklung festgehalten habe: „Aber de facto war ich dem Dogmatismus gefolgt. Im Herbst 1958 erst wurde mir endgültig klar, dass ich vielleicht oder wahrscheinlich manches Opfer der Seuche gerettet hätte, wenn ich dem eigenen ‚Trieb‘, nicht aber quasi in subalternem Gehorsam dem Schematismus der Majorität gefolgt wäre.“ Er plädierte dafür, in jedem Fall einer Atemlähmung skeptisch zu sein und grundsätzlich frühzeitig die Tracheotomie durchzuführen.

Die Polio-Schluckimpfung, die, anders als in der Bundesrepublik, in der DDR bereits ab 1960 zur Verfügung stand und ab 1961 verpflichtend wurde, führte zu einem rapiden Rückgang der Infektionen und beendete schließlich auch die Diskussionen um das Für und Wider der Eisernen Lungen.

Mit der Medi-Lunge hatte die DDR in den 1950er Jahren unter schwierigen ökonomischen Bedingungen ein Beatmungsgerät produziert, das hunderten Patienten das Leben rettete. Dass ihr technisches Know-how dem internationalen Erkenntnisstand immer ein wenig hinterherlief und dass sie in der schwersten Epidemie nicht rechtzeitig verfügbar war, erscheint angesichts der gegenwärtigen Schwierigkeiten bei der Herstellung von Beatmungsgeräten für die Rahmenbedingungen der 1950er Jahre nicht überraschend.

AutorIn:
Kathrin Pscheidl, M.A.
Dr. Hartmut Bettin
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Universitätsmedizin Greifswald
Ellernholzstraße 1-2
17487 Greifswald

Literatur:
- A. Kukowka (Hg.): Poliomyelitisprobleme. Arbeitstagung in Dresden 1. bis 3. Juni 1960. Jena 1961, S. 216-253 (daraus: Zitat Strahl, S. 194; Zitat Kukowa, S. 253)
- H.C.A. Lassen (Hg.): Management of Life-Threatening Poliomyelitis. Copenhagen 1952-1956. Edinburgh/London 1956

Quellen aus dem Bundesarchiv:
- DQ 1/ 21621 (daraus: Zitat Steidle)
- DQ 1/ 21619 (daraus: Zitat Berliner Kliniken)
- DQ 1/ 20115 - DF 4/ 56617

Veröffentlicht am 9.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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