Ausnahmen

Flyer für das Festival obdachloser Aussätziger in Nürnberg | Der Mittwoch der Karwoche war über mehr als 150 Jahre ein besonderer Tag für alle Nürnbergerinnen und Nürnberger: Das „Nürnberger Sondersiechenalmosen" lockte Hunderte von obdachlosen Aussätzigen in die Stadt. In einer langen Prozession zogen sie durch die Stadttore zum Sebalder Kirchhof. Dies waren Menschen, denen das Betreten der Stadt sonst verboten war – immerhin hatte der Rat bereits im 14. Jahrhundert beschlossen, keine fremden Bettler durch die Tore zu lassen, und schon erst recht keine fremden Aussätzigen, wo doch die Nürnberger Aussätzigen in den Leprosorien vor den Toren der Stadt leben mussten. Doch keine Regel ohne Ausnahme – das gilt auch für die „soziale Distanz” angesichts einer ansteckenden Krankheit...

Nicht alle Leprosen hatten das (relative) Glück, in städtischen Leprosorien unterzukommen und damit wenigstens der ärgsten Sorgen um das tägliche Brot und ein festes Dach über dem Kopf enthoben zu sein. Alles deutet darauf hin, dass die Versorgung in den Aussätzigenhäusern recht gut war, und es sind nicht wenige Fälle aktenkundig, in denen Menschen ihren Aussatz simuliert haben, um auf Lebenszeit in einem Leprosorium versorgt werden zu können. Wenig bekannt dagegen ist über die obdachlos herumziehenden Leprosen. Sie werden nur anlässlich der größeren Bettler- und Leprosenfeste historisch sichtbar, die für viele Städte nachweisbar sind.

Das vermutlich größte „Lepra-Festival“ dieser Art war das „Nürnberger Sondersiechenalmosen“. Das 1394 von drei Nürnberger Bürgerinnen etablierte Armenfest lud fremde, also nicht aus Nürnberg stammende, Leprose während der Karwoche in die Reichsstadt ein. Nicht zuletzt deshalb nahm die Obrigkeit bereits nach wenigen Jahren, vermutlich 1405, Anstoß am Sondersiechenalmosen. Sie verbot das Einlassen der fremden und aussätzigen Bettler.

Der Verzicht auf die barmherzige Übung blieb allerdings nach Auskunft des um 1462 zu datierenden Ordnungsbuchs des Sondersiechenalmosens nicht ohne Folgen: „Da verhenget vnser lieber herre Jhus [Christus] das die lewt sturben“. Eine Seuche als göttliche Strafe für das Einhalten des im Alten Testament geforderten Aussetzens der Leprosen! Erst als sich der Stadtrat angesichts des Sterbens anders entschied und die Leprosen wie in den Jahren zuvor einließ, endete das Sterben. In der Folge kamen jedes Jahr in der Karwoche um die 600 fremde Leprose nach Nürnberg. Im 16. Jahrhundert stieg ihre Zahl sogar bis auf 3.000 an!

Der gezeigte Einblattdruck aus dem Jahr 1493 war ein Werbeblatt für das Nürnberger Sondersiechenalmosen. Er schildert den Ablauf des dreitägigen Almosens in Bild und kurzen Textzeilen. Es musste sichergestellt werden, dass tatsächlich Aussätzige in den Genuss der Versorgung kamen, daher beginnt der kolorierte Druck mit einer Warnung an alle vagierenden Bettler, dass eingangs die Ärzte der Stadt genau kontrollierten, ob es sich tatsächlich um Leprose handele: „Freunt du pist nicht sundersiech / Du hast wol sunst verwarlast dich / Bist erfrorn im kallten winter / Laß ander herzu drit du hinhinter“ lautet der Text der ersten, oben links dargestellten Szene. Es folgt eine Beichtpredigt (oben rechts), die Abnahme der Beichte und das Austeilen der Kommunion (Mitte rechts) sowie ein Festmahl (unten links): „Nunn merckt ir frumen cristen lewt / Ob das nicht etwas gutes bedewt / Das die von Nuremberg fleyßiglichen / Alle Jahre den armen sundersichen / So kostlich essen vnd drincken geben ...“

Auch in zeitgenössischen Texten finden sich Hinweise auf das Nürnberger Sondersiechenalmosen, etwa in Spruchdichtung von Hans Rosenplüt (1490) sowie bei den Humanisten Conrad Celtis (1502) und Johannes Cochlaeus (1512). Sie alle sangen das Hohelied auf die gottgefällige Stadt Nürnberg, was sich insbesondere an den zahllosen barmherzigen Einrichtungen zeige. Bei Rosenplüt heißt es: „noch eins dunckt mich ein gotlich werck / Sechs almusen sein Nurmbergk / der wenig in der welt mer ist /“. Als drittes der erwähnten sechs Almosen besingt Rosenplüt das Sondersiechenalmosen: „Den pfligt man drei tag zu kochen / solche edle kostperliche mal / Vnd öß ein furst in einem sal / im wurd das esen nit verschmahen“.

Autor:
Prof. Dr. Fritz Dross
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Friedrich-Alexander-Universtität Erlangen-Nürnberg
Glückstr. 10
91054 Erlangen
https://www.igem.med.fau.de

Literatur:
- Fritz Dross, Annemarie Kinzelbach: „nit mehr alls sein burger, sonder alls ein frembder“. Fremdheit und Aussatz in frühneuzeitlichen Reichsstädten. In: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 1–23
- Fritz Dross: „Das Nürnberger Sondersiechenalmosen", in: Sascha Salatowsky / Michael Stolberg (Hg.), Eine göttliche Kunst. Medizin und Krankheit in der frühen Neuzeit. Gotha / Erfurt 2019, S. 179-180
- Bernd Schäfer / Ulrike Eydinger / Matthias Rekow (Hg.): Fliegende Blätter. Die Sammlung der Einblattholzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Bd. 1: Katalog;  Bd. 2: Abbildungen. Gotha / Stuttgart 2016
darin: Einblattdruck Sondersiechenalmosen. Inv. Nr. 1,50: Bd. 1, S. 232f.; Kommentar: Bd. 2, S. 377

Veröffentlicht am 8.4.2020 (Mittwoch der Karwoche) als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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