Das Zielgerät war in der Interventions-Ausstellung „Durch Mark und Bein. Von der Piste in den OP“ zu sehen, die in Kooperation mit dem Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Ingolstadt entstand. In der Ausstellung wurde die Behandlung von Frakturen nach einem Skiunfall vorgestellt. Medizinisch interessierte Laien, die sich die Ausstellung ansehen, fragten vor allem nach der Funktionsweise des Geräts. Für die Leserschaft des Bayerischen Ärzteblattes hingegen dürfte besonders der Blick zurück zu den Anfängen der Marknagelung interessant sein.
Die Entwicklung des Verfahrens ist eng mit dem Chirurgen Gerhard Küntscher (1900 bis 1972) verknüpft. Am 9. November 1939 führte er in der Kieler Chirurgischen Klinik erstmals eine Marknagelung an einem Menschen durch. Sein Patient war ein Ingenieur, der aus großer Höhe in ein Trockendock einer Kieler Werft gestürzt war und sich dabei mehrere Brüche zugezogen hatte, darunter auch eine Femurfraktur. Diesen Bruch versorgte Küntscher, indem er einen selbst entworfenen Marknagel in den Knochen einschlug [1].
Küntscher hatte diesen Marknagel zusammen mit dem Orthopädiemechaniker Ernst Pohl entwickelt. Seine Überlegungen bauten auf den Erfahrungen von Chirurgen auf, die bereits in den 1910er- und frühen 1920er-Jahren Versuche unternommen hatten, gebrochene Röhrenknochen durch das Einbringen von Drähten und Bolzen zu stabilisieren. Doch trotz des erfolgreichen Verlaufs der Pionier-Operation von 1939 reagierten viele Chirurgen mit starker Ablehnung auf die neue Methode. Im März 1940 stellte Küntscher auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin sein Verfahren erstmals vor. Die Reaktionen fielen so negativ aus, dass Küntscher rückblickend von „eine[m] großen Eklat“ [2] sprach, den sein Vortrag damals ausgelöst habe.
Viele Chirurgen standen der Osteosynthese insgesamt skeptisch gegenüber, da ihnen das Infektionsrisiko zu groß erschien. Zudem war die Ansicht verbreitet, dass das Knochenmark zur Förderung der Knochenheilung nicht beeinträchtigt werden dürfe. Die langen Nägel, die in den Markraum des Knochens eingeschlagen werden, standen dazu im Widerspruch [3]. Doch seine Erfolge gaben Küntscher Recht. Da bei der gedeckten Marknagelung lediglich ein frakturferner Hautschnitt durchgeführt werden musste, war das Infektionsrisiko deutlich geringer als bei anderen Osteosynthe[1]se-Verfahren. Und die Chirurgen staunten, wie schnell die mit der Marknagelung behandelten Patientinnen/Patienten wieder auf die Beine kamen. Der österreichische Chirurg Lorenz Böhler (1885 bis 1973) schrieb beispielsweise 1944, es sei „eine unerhörte Überraschung“ [4] einen Patienten, der sich einen geschlossenen Schaftbruch des Oberschenkels zugezogen hatte, schon zwei Wochen nach der Operation wieder schmerzfrei gehen zu sehen. Die langwierige Behandlung mit dem Extensionsverband war nun nicht mehr nötig.
Nicht zuletzt war es der Zweite Weltkrieg, der die Ausbreitung der Marknagelung förderte. Während des Krieges hatte Küntscher verletzte Soldaten, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren, mit der Methode der Marknagelung behandelt. Nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer begutachteten Ärzte deren verheilte Verletzungen und wunderten sich über die „Metallstäbe“, die sie auf den Röntgenaufnahmen sahen. Im ersten Moment warf man Küntscher sogar vor, Experimente an den Soldaten durchgeführt zu haben [5]. Doch bald wurde erkannt, dass die Marknagelung eine neue, zukunftsweisende Behandlungsmethode war. Schon im März 1945 berichtete das Time Magazine über einen Soldaten, dessen Femurfraktur in deutscher Gefangenschaft genagelt worden war. Was er berichtete, löste Staunen aus: „A few days after that [the surgery], they [the German surgeons] told him to walk. He did. He has walked ever since.“[6]
In den folgenden Jahren etablierte sich die Marknagelung zunehmend als ein Standardverfahren der Frakturbehandlung Doch zurück zum Zielgerät: Es verweist auf eine spätere Phase der Marknagelung. Küntscher wendete zunächst die unverriegelte Marknagelung an. Erst 1972 erfolgte die Weiterentwicklung des Küntscher-Nagels zum Verriegelungsnagel [7].
Anmerkungen:
[1] Vgl. Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Universität Kiel (Hg.): Durch Mark und Bein. Zur Geschichte der Marknagelung. Kiel 2010, S. 7
[2] Zitiert nach: Interview mit Gerhard Küntscher aus dem Jahr 1957, link (letzter Zugriff: 22.07.2024)
[3] Vgl. Howmedica GmbH Kiel (Hg.): Prof. Dr. med. Gerhard Küntscher. Ein Pionier der modernen Osteosynthese. Kiel 1990, S. 9
[4] Zitiert nach: Böhler, Lorenz: Vorwort. In: Die Technik der Knochenbruchbehandlung im Frieden und im Kriege. Bd. 3. Die Marknagelung nach Küntscher. 9. bis 11., umgearbeitete und vermehrte Aufl. Wien 1945, S. V
[5] Vgl. Salvi, Andrea Emilio: Kuntscher Nail. The rod who flied from Germany inside the legs of America. In: Emergency Medicine 2/3 (2012) [6] Zitiert nach: O. V.: Medicine. Amazing Thighbone. In: Time Magazin XLV/11 (1945)
[7] Vgl. Karavalakis, Georgios: Komplikationsanalyse nach Marknagelung von Unterschenkelschaftfrakturen (Dissertation). Eberhard-Karls-Universität Tübingen 2007, S. 12. link (letzter Zugriff: 22.07.2024)
Literatur:
Lara Wendel (Hg.): Durch Mark und Bein. Von der Piste in den OP. Ingolstadt 2024 (Sammelblatt NF 15)
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Autorin
Lara Wendel, M.A.