Sauerbruch-Prothese

Bei Beginn des Ersten Weltkriegs war Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) Professor für Chirurgie in Zürich und Direktor der dortigen chirurgischen Klinik. Er ließ sich beurlauben und meldete sich als Freiwilliger zum Kriegsdienst. Bis Juni 1915 war er als Oberstabsarzt beim XV. Armeekorps in Straßburg tätig. Die große Zahl der dort durchgeführten Amputationen gab ihm zu denken. Er litt unter dem „wenig befriedigende[n] Gefühl für einen Chirurgen, jungen Leuten Arme und Beine abschneiden zu müssen und sie auf diese Weise zu Krüppeln zu machen”. Angeregt durch Aurel Stodola (1859–1942), Professor für Maschinenbau in Zürich, wollte er eine Prothese entwickeln, die von der Muskulatur des Amputationsstumpfes angesteuert werden konnte: die „willkürlich bewegbare künstliche Hand”.

Diese Aufgabe hatte sowohl eine chirurgische als auch eine feinmechanische Seite. Die chirurgische Seite löste Sauerbruch Schritt für Schritt. 1916 konnte er bereits erfolgreich operierte „Kraftwülste” publizieren. Die mechanische Koppelung von Arm und Prothese erreichte er durch das Anlegen von Kanälen durch die Beuge- und Streckmuskulatur. Diese mit Haut ausgekleideten Kanäle nahmen später stabile Elfenbeinstifte auf, in die der Amputierte die Mechanik der Prothese einhängen konnte. So wurde die Kontraktion der Beuger oder der Strecker auf eine Zug- bzw. Druckbewegung des Metallstabes übertragen, der in die Kunsthand hineinlief.

Die technische Lösung der Handmechanik ließ deutlich länger auf sich warten. Die Kriegsinvaliden, deren Amputationsstümpfe von Sauerbruch bereits mit Kraftwülsten und Kanälen versehen worden waren, mussten sich in Geduld üben. Noch gab es keine geeigneten Prothesen für sie. Sauerbruch sprach dieses Problem 1916 offen an: „Die Herstellung einer willkürlich bewegbaren, künstlichen Hand ist bisher an einer Reihe technischer Schwierigkeiten gescheitert”. Er forderte eine künstliche Hand, die nach anatomisch-funktionellen Gesichtspunkten gebaut sein muss. „Die praktische Lösung unserer Forderung liegt in der Hand des Technikers”, so Sauerbruch weiter.

Doch noch während das Buch im Druck war, wurde Sauerbruch „ein brauchbares Handmodell geliefert, das einen erheblichen Fortschritt gegenüber allen bisherigen Konstruktionen darstellt”. Sauerbruch nannte zwar keinen Namen, aber man darf davon ausgehen, dass dieses Modell von dem Uhrmacher und Feinmechaniker Jakob Hüfner (1874–1968) stammte. Als Sauerbruch, inzwischen Direktor der chirurgischen Universitätsklinik in München, 1923 den zweiten Band seines Buches veröffentlichte, schrieb er darin mit großer Selbstverständlichkeit, dass er für die Kunstarme „die gut bewährte Hüfnersche  Zweizughand” verwende. Weiter verriet er nichts über den Mann, ohne den die von ihm entwickelte Operation wohl nie von praktischer Bedeutung für die Kriegsversehrten geworden wäre.

Der Uhrmacher und Feinmechaniker Jakob Hüfner (1874–1968) ließ 1922 einen Sperrmechanismus für künstliche Hände patentieren. Damit ließ sich die Hand nicht nur weit öffnen und zum Spitzgriff schließen, sondern auch durch einen kleinen Hebel in jeder beliebigen Stellung „einfrieren”, so dass es möglich war, mit der Hand lange und kraftvoll zuzupacken und gleichzeitig die Muskulatur zu entlasten. Hüfner schätzte am Ende seines Lebens, dass er an die 40.000 Holzhände mit der von ihm entwickelten Mechanik bestückt hatte. Denn die Nachfrage war groß. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Deutschland rund 50.000 armamputierte Männer. Einer von ihnen war der junge Hutmacher Gottfried Schätz in Tegernsee, von dem die hier gezeigte Prothese stammt. Der Sauerbruch-Schüler Max Lebsche hatte ihm in München die Muskelkanäle angelegt und ihm den Kunstarm angepasst. Über 60 Jahre lang war er mit seiner Sauerbruch-Prothese in der Werkstatt gestanden und hatte damit unzählige „Stopselhüte” geformt. Wer mehr über den Hutmacher, den Chirurgen und den Uhrmacher erfahren möchte, die mit der Ding-Biographie dieser Prothese verknüpft sind, sei auf die kleine Ausstellung  „Die Hand des Hutmachers” verwiesen, die noch bis 15. Juni im Deutschen Medizinhistorischen Museum zu sehen ist.

 

Literatur:

Martin F. Karpa: Die Geschichte der Armprothese unter besonderer Berücksichtigung der Leistung von Ferdinand Sauerbruch (1875–1951). Diss. med. Essen 2004

Marion Ruisinger (Hg.): Die Hand des Hutmachers. Ingolstadt 2014 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 40).

Ferdinand Sauerbruch: Die willkürlich bewegbare künstliche Hand. Eine Anleitung für Chirurgen und Techniker. Berlin 1916

Ferdinand Sauerbruch: Die willkürlich bewegbare künstliche Hand. Eine Anleitung für Chirurgen und Techniker. 2. Bd., Berlin 1923


Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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