Klistierszene

Bei dieser fein ausgeführten Temperamalerei auf Elfenbein handelt es sich um die Kopie eines 1778 entstandenen, mit 61,8 x 80 cm sehr viel größeren Gemäldes von Jan Antoon Garmeyn (1712–1799). Dieses befindet sich heute im Groeninge Museum in Brügge, der Heimatstadt des Malers. Der Bildaufbau ist bei beiden Gemälden sehr ähnlich. Der Maler der Miniatur hat lediglich den Stuhl des Baders und den drapierten Vorhang ergänzt, um das ursprünglich für einen ovalen Bildgrund komponierte Motiv in den rechteckigen Rahmen anzupassen. Stark verändert ist hingegen die Farbgebung. Während im Original kräftige, warme Rot- und Blautöne dominieren, zieht der Miniaturist zarte Blau- und Grautöne vor und gestaltet das im Original rosige Inkarnat blasser und durchsichtiger, wobei er die Eigenfarbe der Elfenbeinunterlage durchscheinen lässt. Auch in der Darstellung der Personen zeigen sich Unterschiede: Bei Garmeyn wirkt der Bader recht ungepflegt und der Säugling schreit mit aufgerissenen Augen seine Qual heraus, während beide in der Kopie glatter und ruhiger wirken. Die ursprünglich barock-drastische Szene wurde hier offensichtlich dem Zeitgeschmack entsprechend verändert.

Betrachten wir die Szene genauer: der Bader verabreicht einem Säugling ein Klistier. An dieser Stelle ließe sich einiges zum therapeutischen Zweck der Klistiergabe sagen, ebenso wie zur Entwicklung der Klistierspritze oder ihrer symbolischen Bedeutung als Attribut des humoralpathologisch agierenden Arztes schlechthin (man denke nur an den Arzt in Molières „Malade imaginaire”). 

Doch wenn man dem Blick des Baders folgt, eröffnet sich ein ganz anderer Aspekt der dargestellten Szene: Er blickt nicht auf den Säugling, sondern schielt über seine Klemmbrille hinweg in das Dekolleté der hübschen jungen Amme, auf deren Schoß das Kind liegt, und die ihm dadurch schon fast unschicklich nahe gerückt ist. Aus dem vordergründig medizinischen Sujet wird so ein galantes Bild von verspielter Frivolität. Diese Miniatur hing wohl nicht in einem bürgerlichen Salon, sondern wurde als Sammlerstück im Kabinettschrank aufbewahrt, um bei passender Gelegenheit von ihrem Besitzer zum Amüsement seiner Besucher (und Besucherinnen) hervorgeholt zu werden.

 

Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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