Glasaugentableau

Die 49 Glasaugen, die uns aus dem hübschen goldenen Rahmen anblicken, haben fast etwas Magisches. Wie ein Schmetterlingssammler seine Beute in Schaukästen anordnet, um Ordnung in die verwirrende Vielfalt der Natur zu bringen, so hat man hier kranke Augen „gesammelt”, abgezeichnet, nachgeformt und aufgereiht.

Ursprünglich diente dieses spektakuläre Objekt einem ganz nüchternen Zweck: Das Augentableau war ein Lehrmittel, das ein Pariser Augenarzt namens Noël 1834 anfertigen ließ, um seinen Schülern die unterschiedlichen Krankheiten des Auges zu demonstrieren. Die Glasaugen ersetzten im Unterricht den Gang ans Krankenbett – was umso wichtiger war, als die einzige auf Augenkrankheiten spezialisierte Klinik in Paris erst im Vorjahr eröffnet worden war und zudem privat geleitet wurde. Die gläserne Augensammlung dagegen stand Noël immer zur Verfügung, wenn er Anschauungsmaterial für seine Schüler benötigte.

Unter jedem Auge ist ein Papierstreifen mit der französischen Krankheitsbezeichnung angebracht. Manche dieser Bezeichnungen sind heute noch gebräuchlich, andere eher obsolet. Nur ein paar Beispiele: Da finden sich weit fortgeschrittene Formen der „Cataracte” (Grauer Star), bei denen die ursprünglich schwarze Pupille durch die extreme Trübung der Linse milchweiß erscheint, ein „Hypopyon” mit einer deutlich erkennbaren Eiteransammlung in der vorderen Augenkammer und ein „Œil de Chat / Amaurotique” (Katzenauge / erblindet), durch dessen weite Pupille das Augeninnere bläulich schimmert.

Wissenschaftshistorisch besonders interessant ist die „Ophthalmie scorbutique simple” (einfache skorbutische Augenerkrankung). Das betreffende Glasauge hat zwar eher unspektakuläre Symptome, verweist aber auf das Problem der retrospektiven Diagnostik, denn „Skorbut” ist heute als Vitamin-C-Mangelkrankheit definiert – dieses Vitamin wurde aber erst in den 1920er Jahren entdeckt. Ein Arzt der 1830er Jahre verstand unter dieser Krankheit daher zwangsläufig etwas anderes als wir heute. Aufgrund solcher Überlegungen sieht man in der Medizingeschichte inzwischen davon weitgehend davon ab, historische Krankheitsnamen mit modernen Diagnosen gleichzusetzen.

Die Glasaugen eröffnen einen gewissen Ausweg aus diesem methodischen Dilemma: Die Koppelung der historischen Bezeichnung mit dem Erscheinungsbild der Krankheit erlaubt es, Aussagen darüber zu treffen, welche Veränderungen des Augapfels Pariser Augenärzte in den 1830er Jahren meinten, wenn sie die betreffenden Diagnosen verwendeten. Und das ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil damals der forschende Blick des Arztes auf das Äußere des Auges beschränkt war. Erst 1850 wurde es mit der Erfindung des Augenspiegels durch Hermann von Helmholtz möglich, auch in das Innere des Auges zu blicken und die Strukturen des Augenhintergrundes zu untersuchen. Für Noël und seine Zeitgenossen bot der äußere Aspekt des Auges dagegen nicht nur eine, sondern die einzige Information für die Diagnosefindung. Dadurch erhielten die in Glas verewigten pathologischen Veränderungen für die Ausbildung zukünftiger Augenärzte ihre besondere Bedeutung. 

 

Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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