Blasenstein-Manuskript

Im März 2016 erwarb die „Gesellschaft der Freunde und Förderer des Deutschen Medizinhistorischen Museums e.V.“ eine gebundene, reich bebilderte frühneuzeitliche Handschrift für das Museum. Die erste Begegnung mit diesem Manuskript hinterlässt einen bleibenden Eindruck: Beim Aufklappen des mit hellem, geprägten Leder bezogenen Bandes im Großfolioformat blickt man erstaunt auf: nichts. Zumindest nicht auf das, was man erwarten würde: kein Vorsatzblatt mit Exlibris, Besitzvermerk oder Widmung, kein den Inhalt ankündigendes Titelblatt. Lediglich ein leeres Blatt Papier. Das bleibt zunächst auch so beim Weiterblättern. Doch dann trifft man auf klar strukturierte Doppelseiten: links sind Texteinträge zu sehen, rechts finden sich ganz ähnliche Textkartuschen, hier aber ergänzt durch Abbildungen von Blasensteinen. Gelegentlich weist ein kleines rotes Kreuz bei einem Stein darauf hin, dass die Operation nicht glücklich verlaufen war. Die dazugehörigen Textblöcke nennen jeweils Name, Alter und Wohnort der behandelten Personen sowie – im Falle der linksseitigen Einträge – Anlass und Art der Behandlung. Angaben zur Verortung oder Datierung der medizinischen Maßnahmen fehlen. Diese Bild-Text-Kombination bestimmt den Rest des Manuskripts, insgesamt 19 Doppelseiten lang.

Die Untersuchung der Wasserzeichen, die auf Augsburger Papiermühlen verwiesen, und eines im Manuskript abgebildeten Wappens aus der Familie der Fugger gaben die Richtung für die weiteren Recherchen vor. Im Fugger-Archiv in Dillingen wurden wir fündig. Dort erhielten wir den Hinweis auf die 1540 von den Fuggern gegründete „Schneidhaus-Stiftung“, die bis 1806 existierte. Durch diese Stiftung wurde es bedürftigen katholischen Kranken ermöglicht, mit einem entsprechenden Empfehlungsschreiben eine kostenlose Operation durch einen hervorragenden Schneidarzt zu erhalten, der von den Fuggern angestellt war. Die Stiftung wurde, wie es bei einem weltweit agierenden Handelshaus nicht anders zu erwarten war, sorgfältig verwaltet – und die damals entstandenen Dokumente wie Einweisungszettel, Chirurgennotizen und Rechnungsbücher haben sich bis heute erhalten.

In diesen Rechnungsbüchern fanden sich dieselben Namen wie in dem Manuskript. Das lieferte den Beweis, dass es sich dabei um Aufzeichnungen handelt, die zwischen 1610 und 1625 im Umfeld des Schneidhauses entstanden sind. Die hervorragende Quellenlage ermöglichte auch die Beantwortung weitergehender Fragen zu dem bislang in der Forschung kaum beachteten Schneidhaus der Fugger in Augsburg. Im Rahmen eines dreijährigen DFG-Projektes sind wir diesen Fragen nachgegangen.

Das Forschungsprojekt mündete in die Ausstellung „STEINREICH. Das Schneidhaus der Fugger in Augsburg“ (3.11.2022 - 17.9.2023) und in den gleichnamigen Katalog. Zu den erstaunlichen Ergebnissen gehört die Erkenntnis, dass es sich bei dem von den Fuggern gestifteten Schneidhaus um das früheste chirurgische Krankenhaus mit eindeutig kurativer Zielsetzung handelt, das uns bislang bekannt ist. Die hier versorgten, ganz überwiegend männlichen Kranken litten zu zwei Dritteln an „Brüchen“ (Hernien und Skrotaltumoren) und zu einem Drittel an Harnblasensteinen. Die meisten waren unter 15 Jahre alt, auch Säuglinge waren darunter. Und das Überraschende: Ende des 16. Jahrhunderts wurden 92 % der am Stein oder Bruch geschnittenen Kranken als „geheilt“ entlassen. Auch wenn man berücksichtigt, dass „geheilt“ im damaligen Kontext nicht „völlig gesund“ bedeutet, belegt diese hohe Erfolgsquote doch das Geschick der damaligen Schneidärzte und die Sachkenntnis und Sorgfalt der Pflegenden.

Literatur:

Annemarie Kinzelbach, Monika Weber (Hg.): STEINREICH. Das Schneidhaus der Fugger in Augsburg. Ingolstadt 2022 (Kataloge des DMMI 48). 
Erhältlich im Onlineshop

Autorin
Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger

PDF der Objektgeschichte im Bayerischen Ärzteblatt

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