Anatomenporträt

Zur Sammlung des Deutschen Medizinhistorischen Museums gehören nicht nur medizinische Instrumente und andere Gerätschaften, sondern auch Gemälde und graphische Blätter. Das hier vorgestellte, qualitätvolle Ölbild zeigt einen bärtigen Herrn in der Kleidung des 16. Jahrhunderts. Seine linke Hand ruht auf einem menschlichen Schädel, der durch den Zeigegestus der Rechten zusätzlich hervorgehoben wird. Schädel gehörten zu den üblichen Requisiten frühneuzeitlicher Memento-mori-Darstellungen, die an die Vergänglichkeit alles Lebens gemahnen sollten. In Verbindung mit einem Porträt erlaubten sie zwar auch diese Lesart, gewannen aber eine zusätzliche Bedeutung: sie verwiesen auf die Expertise des Dargestellten für den Umgang mit menschlichen Gebeinen, vielleicht sogar für die Bezwingung des Todes. Für zeitgenössische Betrachter las sich ein solches Porträt so klar wie eine Visitenkarte: hier handelt es sich um einen anatomisch tätigen Arzt.

Das Gemälde zeigt den Nürnberger Stadtarzt Volcher Coiter (1534–1576) im Alter von etwa 40 Jahren; wenig später starb er auf dem Frankreich-Feldzug des Pfalzgrafen Johann Casimir in Brienne an einer Seuche. Vieles spricht dafür, dass Coiter dem Wunsch des Heidelberger Fürsten, ihm als Feldarzt zur Seite zu stehen, nicht zuletzt deshalb Folge leistete, weil er sich von dem Feldzug reichlich Gelegenheit zu anatomischen Studien erhoffte. Hier stellt sich die Frage nach den Forschungsmöglichkeiten eines anatomisch interessierten Arztes im Nürnberg des 16. Jahrhunderts – und nach dem Ursprung von Coiters Leidenschaft für die Anatomie.

Volcher Coiters Lebensweg war geprägt von den großen religiösen und wissenschaftlichen Bewegungen seines Jahrhunderts: Der Sohn eines Juristen stammte aus der niederländischen Stadt Croningen. Mit 21 Jahren erhielt er ein Reisestipendium, um fünf Jahre an ausländischen Universitäten zu studieren. Er suchte die führenden Medizinischen Fakultäten seiner Zeit auf: Montpellier, Bologna und Padua, wo er u.a. von Gabriele Fallopio in der Anatomie ausgebildet wurde. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung bot Coiter selbst anatomische und chirurgische Lehrveranstaltungen an. Eine weitere Karriere in Italien scheiterte jedoch an seiner Konfession: Der Protestant Coiter wurde verhaftet und vor ein Inquisitionsgericht gebracht. Durch die Fürsprache einflussreicher Freunde kam er wieder auf freien Fuß und verließ Italien. Seine nächste aktenkundige Station war Amberg in der Oberpfalz, wo er als Leibarzt des Pfalzgrafen Ludwig und als Lehrer tätig war. 1569 trat er schließlich das ehrenvolle Amt eines Nürnberger Stadtarztes an, das mit einem jährlichen Gehalt von 100 Gulden und dem Recht zur privaten Praxis verbunden war.

In der fränkischen Metropole traf Coiter einen Studienfreund aus seiner Zeit in Bologna wieder. Johann Camerarius (1534–1598) leitete inzwischen das Medizinalwesen der freien Reichsstadt, das nach italienischem Vorbild konzipiert war und zu den fortschrittlichsten seiner Zeit gehörte. Dies beinhaltete auch die Veranstaltung anatomischer Demonstrationen, die damals noch im Dominikanerkloster durchgeführt wurden. Allerdings waren die Gelegenheiten dafür rar gesät, denn der Anatomie standen nur die Leichen hingerichteter Verbrecher zur Verfügung. Coiter eröffnete zwar gelegentlich auch verstorbene Patienten, doch dabei handelte es sich nicht um anatomische Zergliederungen, sondern um klinisch-pathologische Obduktionen. Gut möglich, dass Coiter wirklich die Hoffnung auf Anatomieleichen an dem Feldzug teilnehmen ließ.

In Nürnberg traf Coiter übrigens auch auf einen weiteren Niederländer, der aus religiösen Gründen seine Heimat verlassen musste: den Calvinisten Nicolas Neufchatel, der es zum bevorzugten Porträtmaler der Nürnberger Patrizier brachte und auch das Gemälde seines Landsmanns anfertigte.

 

Literatur:

Volcher Coiter: Externarum et internarum principalium humani corporis partium tabulae [...]. Nürnberg 1573.

Heinz Görke: Volcher Coiter (1534–1576) - Anatom und Stadtarzt zu Nürnberg. In: Jahrbuch des Deutschen Medizinhistorischen Museums 6/1986–1988, hrsg. von Heinz Goerke, Christa Habrich u. Juliane C. Wilmanns. Ingolstadt 1988, S. 76–80.

Marion Maria Ruisinger: Mit Sinn und Verstand. Eine Ausstellung für Christa Habrich. Ingolstadt 2010, S. 92 f.

Thomas Schnalke: Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew. Erlangen 1995, S. 218 f.


Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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