Kupferstich

Das Deutsche Medizinhistorische Museum besitzt über 2.000 Druckgraphiken aus vier Jahrhunderten. Bei den meisten handelt es sich um Ärzteporträts. Es gibt aber auch Blätter, deren Verbindung zur Medizin weniger augenfällig ist. Eine solche Graphik konnte das Museum heuer erwerben. Sie stammt von Johannes Sadeler (1550–1600), der von 1589 bis 1595 als Hofkupferstecher bei Herzog Albrecht V. in München wirkte. In dieser Zeit dürfte auch der Kupferstich entstanden sein, dem ein Entwurf des Münchner Hofmalers Christoph Schwarz (1548–1592) zugrunde liegt. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine paradiesisch-idyllische Landschaftsszene. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der unbeschwerte Eindruck trügt.

Der Brunnen im linken Hintergrund wird von einer Venusfigur gekrönt. Aus ihren Brüsten ergießt sich Wasser in ein Bassin, das einen Bachlauf speist. An diesem Bach haben sich vier Personen und ein Hund eingefunden. Letzterem kommt eine Schlüsselrolle zu: Er hebt sein Bein über dem klaren Quellwasser und verunreinigt es mit kräftigem, prominent in Szene gesetzten Strahl. Folgt man dem Wasserlauf ein wenig weiter, erblickt man einen durstig trinkenden Hirten. Von rechts eilt ein Lanzenträger herbei, um ihn vor dem unreinen Nass zu warnen. Doch zu spät, er hat bereits davon getrunken.

Die übrigen Figuren dienen zur Entschlüsselung dieser Szene: In der Bildmitte steht ein bärtiger Greis, den ein Buch als Gelehrten ausweist. Er blickt auf den Trinkenden, deutet mit seiner rechten Hand aber zu den beiden Frauengestalten hinüber, zu der Venusfigur, vor allem aber zu der reich gekleideten, Laute spielenden Dame, die ihr Bein ebenfalls über den Bach gehoben hat. Hier, so scheint sein Gestus anzudeuten, ist die eigentliche Quelle der Verunreinigung zu suchen. Musik, Wein, Perlenohrringe und Spitzenkragen rücken die Dargestellte in der zeitgenössischen Symbolik in die Nähe von „Voluptas” (Wollust) und „Luxuria” (Genusssucht). Die auffällige hörnerähnliche Frisur weist in dieselbe Richtung, denn dies war die Haartracht der venezianischen Kurtisanen. Das Rätsel ist gelöst. Mit dem Venusbrunnenwasser, das der junge Hirte durstig trinkt, nimmt er die Folgen unreiner Liebe in sich auf: Das Bild ist eine Allegorie auf die Ansteckung durch die Lustseuche.

Im 16. Jahrhundert war die Lustseuche ein großes Thema. Sie hatte sich seit der Rückkehr der Schiffsbesatzungen aus der Neuen Welt über ganz Europa verbreitet. Ihren Namen bekam die Krankheit durch das 1530 veröffentlichte Lehrgedicht des veronesischen Arztes Girolamo Fracastoro (1478–1553). Dieses Lehrgedicht bietet auch den Schlüssel zum Verständnis der vorliegenden Graphik. Fracastoro [der Greis mit dem Buch] stellte die Krankheit als Sündenfall eines Einzelnen dar: Der Jäger Ilceus [der Lanzenträger] vergeht sich an den Gesetzen der Diana, indem er den ihr heiligen Hirsch tötet, und erkrankt. Als Mittel gegen seine Krankheit nennt das Gedicht unter anderem die geschlechtliche Enthaltsamkeit – übrigens der einzige Hinweis auf eine sexuelle Ätiologie. Später tritt ein Hirtenjunge auf [der trinkende Hirte]. Sein Name: Syphilis.

Der Künstler ließ die musizierende Kurtisane als einzige der abgebildeten Personen aus dem Bild heraus blicken. Damit beschränkt sich die Warnung vor der Lustseuche nicht auf die dargestellte Szene, sondern richtet sich auch an den Betrachter. Ursprünglich standen unter der Grafik lateinische Bibelverse, die diese moralisierende Intention des Bildes noch unterstützen. In dem vorliegenden Exemplar sind diese Verse aber einem zu knappen Zuschnitt zum Opfer gefallen.


Literatur:

Kahren Jones Hellerstedt: Gardens of Earthly Delight: Sixteenth and Seventeenth-Century Netherlandish Gardens. Pennsylvania 1986

Erwin Panofsky: Homage to Fracastoro in a Germano-Flemish composition of about 1590? In: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 12 (1961), S. 1–31

Georg Wöhrle: Girolamo Fracastoro. Lehrgedicht über die Syphilis. Bamberg 1988


Autorin:

Corinna Feucht M.A.
Kunsthistorikerin

 

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