Schwangere aus Elfenbein

Solche zarte, wie schlafend daliegende Frauen aus Elfenbein waren nicht, wie oft behauptet wird, Lehrobjekte für angehende Hebammen, Chirurgen oder Anatomen. Die Ausarbeitung und Anordnung der inneren Organe ist viel zu grob und schematisch durchgeführt, um von didaktischem Nutzen für die Ausbildung von medizinischem Fachpersonal gewesen zu sein. Nur ein Beispiel: Das mittig platzierte Herz wird von zwei identisch geformten Lungenflügeln flankiert, die Untergliederung in die Lungenlappen wird lediglich durch eine quer verlaufende Kerbe angedeutet. Diese Art der Darstellung entspricht weder dem anatomischen Wissen noch der medizinischen Visualisierungspraxis des 18. Jahrhunderts.

Kunstkammerobjekt
Bei dem dekorativen Figürchen dürfte es sich vielmehr um einen exklusiven Sammlungsgegenstand für die Kunst- und Naturalienkabinette des 17. und 18. Jahrhunderts handeln. Solche feine Arbeiten aus Elfenbein wurden im Kabinettschrank verwahrt und nur für Freunde oder interessierte Gäste hervorgeholt. Sie waren edle „Spielzeuge für Erwachsene”, die amüsiert und fasziniert die Abtragung des Leibes verfolgten, bis sich ihren Blicken das ungeborene Kind darbot.

Das Deutsche Medizinhistorische Museum besitzt gleich zwei dieser kostbaren Elfenbeinmodelle schwangerer Frauen. Da sich die beiden Figürchen stilistisch unterscheiden, dürften sie aus unterschiedlichen Werkstätten stammen. Das hier gezeigte wurde wohl von dem Nürnberger Elfenbeindrechsler Stephan Zick (1639–1715) angefertigt, für dessen Arbeiten der abgespreizte kleine Finger und die „eingeschnittene” Kniescheibe typisch sind.

Zick in Nürnberg
Für das Zick’sche „Markenzeichen” der gekerbten Kniescheibe gibt es interessanter Weise keine befriedigende anatomische Erklärung. Zwar kann als Normvariante eine Patella bipartita vorkommen, aber bei dieser verläuft die Teilung in der Regel nicht durch die Mitte der Kniescheibe, zudem ist die Haut darüber nicht eingesunken. Denkbar wäre noch, dass Zick dabei auf den Gelenkspalt des Knies anspielte, aber auch dieser stellt sich an der Oberfläche nicht dar. Da sich die Kerben genauso bei männlichen Figuren finden, schließt sich auch eine symbolische Bezugnahme auf das weibliche Geschlecht aus.

Stephan Zick gilt neben seinem Vater Lorenz (1594–1666) als bedeutendster Vertreter der Kunstdrechslerei in Nürnberg. Er stellte nicht nur zerlegbare Frauen- und Männerfiguren aus Elfenbein her, sondern auch gedrechselte Augenmodelle, die sich ebenfalls auseinander nehmen ließen. Das Nürnberger Künstlerlexikon verzeichnet neben den beiden genannten Kunstdrechslern nicht weniger als 48 Träger des Namens „Zick”, die vom späten 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Freien Reichsstadt als Drechsler tätig waren. Noch im Jahr 1803 konnte man in Nürnberg eine „anatomische schwangere Frau von Helfenbein, 8 Zoll lang” für 13 Gulden kaufen.

 

Literatur:

Grieb, Manfred H. (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon. 4 Bde., München 2007.

Philippovich, Eugen v.: Anatomische Modelle in Elfenbein und anderen Materialien. In: Sudhoffs Archiv 44 (1960), S. 159-178.

Philippovich, Eugen v.: Elfenbein. 2. Aufl., München 1982 (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde 17), S. 331-336.

Ruisinger, Marion Maria (Hg.): Mit Sinn und Verstand. Eine Ausstellung für Christa Habrich. Ingolstadt 2010 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 35), S. 94 f.


Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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